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DVD & BLU-RAY | 20.11.2025

Leonora im Morgenlicht
Die Selbstbefreiung im Spiegel des Surrealen

Ein Leben zwischen Surrealismus, Selbstbehauptung und seelischer Zerrissenheit: "Leonora im Morgenlicht" erhellt die innere Welt einer der faszinierendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit feministischer Präzision zeichnet der Film den Weg einer Frau nach, die sich gegen männliche Vereinnahmung und historische Gewalt behauptet. Ein atmosphärisch kraftvolles Porträt, das jetzt für das Heimkino erscheint und Carringtons Mythos in neuem Licht erkennen lässt.

von Franziska Keil


© Alamode Film

Wenn ein Film den Anspruch erhebt, einer Künstlerin gerecht zu werden, deren Werk zwischen Mythopoetik, feministischer Selbstbehauptung und existenzieller Verwandlung oszilliert, dann muss er sich an der Fähigkeit messen lassen, diese innere Bewegtheit sichtbar zu machen. „Leonora im Morgenlicht“, der am 20. November auf DVD und digital für das Heimkino erscheint, ist ein solcher Versuch – und zugleich ein Film, der die Herausforderung annimmt, eine der faszinierendsten Figuren des 20. Jahrhunderts in ihrer Zerrissenheit, ihrem Eigensinn und ihrer schöpferischen Wucht zu umkreisen. Leonora Carrington, enfant terrible der europäischen Surrealist:innen, spätere Ikone der mexikanischen Kunst, Weltenwanderin zwischen Trauma, Befreiung und künstlerischer Rebellion, wird hier als eine Figur inszeniert, die nicht nur an den äußeren Verwerfungen des Jahrhunderts, sondern auch an strukturellen Geschlechterordnungen reibt. Der Film begreift Carrington nicht primär als museale Randfigur eines männlich dominierten Kunstzirkels, sondern als Frau, die ihren eigenen Mythos erschafft – und die in den Zwischenräumen des Patriarchats jene poetische Autonomie sucht, die ihr die Geschichte stets zu verweigern schien.

Das Regieduo Lena Vurma und Thor Klein entscheidet sich für eine episodische, achronologische Struktur – ein Ansatz, der sich produktiv auf Carringtons Lebensweg überträgt, der selbst von Brüchen, Fluchten und Wiedergeburten geprägt ist. Der Film springt zwischen den surrealistischen Salons im Paris der 1930er, der entgrenzten Freiheit Südfrankreichs, den Abgründen einer psychiatrischen Zwangseinweisung während des Krieges und dem schillernden Exil in Mexiko. Diese fragmentierende Erzählweise ist ästhetisch mehr als Manier: Sie evoziert das Gefühl einer Identität, die nie stillstehen durfte, die stets neu zusammengesetzt werden musste. Gleichzeitig arbeitet „Leonora im Morgenlicht“ mit einer klar feministischen Perspektive, indem es die Mechanismen der männlichen Vereinnahmung offenlegt. Max Ernst erscheint nicht als monströse Figur, sondern als Repräsentant eines Systems, das die kreative Potenz einer Frau nur in Relation zu einem Künstler-Genie wahrzunehmen bereit ist. Die Szenen, in denen Carrington sich gegen die Reduktion auf die Rolle der „Muse“ wehrt, markieren die entscheidenden Momente ihrer Selbstbehauptung – auch wenn die filmische Umsetzung nicht immer die gewünschte dialogische Tiefe entfaltet.

Stärke gewinnt der Film dort, wo er Carringtons psychische Erschütterungen nicht pathologisiert, sondern als Ausdruck eines weiblichen Subjekts begreift, das auf strukturelle und gesellschaftliche Gewalt reagiert. Die Sequenzen in der Nervenheilanstalt, die Visionen und Albträume, das Aufscheinen mythischer Tiergestalten und mexikanischer Gottheiten – all dies liest sich als filmische Strategie, um Carringtons innere Kämpfe mit den äußeren Zumutungen zu verschränken. Gerade der Mexiko-Part entfaltet einen Sog, weil die Umgebung – Las Pozas als verwunschene Skulpturenlandschaft – zu einem Resonanzraum für Carringtons geistige und künstlerische Echokammer wird. Hier verdichten sich die repetitiven Verletzungen patriarchaler Strukturen zu einem poetischen Eigensinn: der Geburt einer Mythologie, die Leonora Carrington später zu einer der bedeutendsten Künstlerinnen des Surrealismus machen sollte.


© Alamode Film

Der vielleicht größte Schwachpunkt des Films liegt in der erstaunlichen Abwesenheit von Carringtons tatsächlicher Kunst. Nur spärlich gewährt er Einblicke in die Bildwelten, aus denen ihre besondere Form des feministischen Surrealismus erwuchs. Für ein Porträt einer Malerin wirkt dies wie eine widersprüchliche Leerstelle. Und doch lässt sich dieses Manko auch als bewusste Entscheidung lesen: Der Film will nicht illustrieren, sondern das psychische Territorium ausleuchten, aus dem Carringtons Werk hervorging. Aus feministischer Sicht birgt diese Leerstelle jedoch Ambivalenz. Einerseits verweigert sich der Film der bekannten musealen Vereinnahmung; andererseits riskiert er, Carringtons schöpferische Sprache gerade dort unsichtbar zu machen, wo die Selbstbefreiung der Künstlerin am stärksten materielle Form annahm. Mit Olivia Vinall findet der Film eine Darstellerin, die Carringtons Zerbrechlichkeit eindrucksvoll verkörpert. Ihr Spiel ist innerlich, zurückgenommen, fast geisterhaft – ein Ansatz, der nicht immer Identifikation ermöglicht, aber Carringtons „Zwischenweltlichkeit“ durchaus trifft. Dass manche Dialoge hölzern wirken, liegt weniger an Vinall als an der bisweilen überdidaktischen Textgestaltung.

FAZIT

„Leonora im Morgenlicht“ ist kein traditionelles Künstlerinnenbiopic, sondern ein Versuch, die inneren und äußeren Räume eines feministischen Widerstands spürbar zu machen. Der Film zeigt, wie eine Frau im malerischen wie realen Exil ihre eigene Stimme findet – gegen die Zumutungen einer patriarchalen Kunstwelt, gegen die Gewalt politischer Systeme, gegen die Dämonen einer zerrissenen Seele. Es ist ein atmosphärisch kraftvolles Werk, reich an symbolischen Bildern und historischen Texturen, das sich der Herausforderung stellt, ein Leben zu zeigen, das selbst wie ein surrealistischer Traum erscheint – und das dennoch eine exemplarische weibliche Selbstbefreiung erzählt. In dieser Lichtung zwischen Mythos, Trauma und künstlerischer Autonomie findet der Film seinen stärksten Ausdruck: als poetisches, feministisches Porträt einer Frau, die im Surrealen ihre Wahrheit suchte – und fand.


LEONORA IM MORGENLICHT

ET: 20.11.25: DVD & digital | FSK 12
R: Thorsten Klein, Lena Vurma | D: Olivia Vinall, Alexander Scheer, Ryan Gage
Deutschland, Mexiko, Rumänien, Großbritannien 2025 | Alamode Filmdistribution


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