FILME | SERIEN | MUSIK | BÜCHER | PANORAMA | INTERVIEWS

DVD & BLU-RAY | 10.12.2025

Wenn der Herbst naht

Ein vielschichtiges Psychodrama entfaltet sich im Spannungsfeld aus familiärer Schuld, emotionaler Sedimentation und ästhetischer Präzision. „Wenn der Herbst naht“ zeigt François Ozon auf dem Höhepunkt seines Könnens, als Meister der Andeutung und der moralischen Ambiguität.

von Franziska Keil


© 2024 FOZ/FRANCE 2 CINÉMA/PLAYTIME

François Ozon gehört zu jenen europäischen Regisseuren, die sich mit einer fast enigmatischen Selbstverständlichkeit zwischen Psychodrama, Genrefilm und emotionaler Introspektion bewegen. Sein Werk „Wenn der Herbst naht“ fügt sich nahtlos in diese Tradition ein und präsentiert sich als konzentriertes Kammerspiel über familiäre Verwundungen, verschüttete Wahrheiten und die fragile Mechanik von Nähe und Schuld. Der Film, nun für das Heimkino verfügbar, demonstriert einmal mehr Ozons Fähigkeit, klassische Motive des französischen Thrillers mit einer emotional wie ästhetisch vielschichtigen Sensibilität zu verschmelzen. Im Zentrum steht Michelle, eine ältere Frau, deren zurückgezogenes Leben von der Ambivalenz zwischen Selbstbehauptung und Reue durchzogen ist. Ihre Figur entfaltet sich aus kleinsten Gesten und Blicken heraus, und Ozon entwickelt sie nicht über erklärende Exposition, sondern über atmosphärisch dicht komponierte Szenen, die stets ein wenig mehr verbergen, als sie offenlegen. Die dramaturgische Klammer bildet ein vermeintlicher Unfall, der zugleich als dramaturgisches Katalysatorereignis und als moralisches Rätsel fungiert. Mit der für Ozon typischen Gratwanderung lässt der Film die Frage offen, ob der vermeintliche Fehler nur ein tragischer Zufall war oder ob sich dahinter ein tiefer liegendes, vielleicht verdrängtes Moment aktiver Verantwortung verbirgt. Die cineastische Klasse von „Wenn der Herbst naht“ zeigt sich in der Art und Weise, wie Ozon das Verhältnis zwischen Andeutung und Auslassung austariert. Ein Großteil der Spannung entsteht aus dem, was außerhalb des Sichtfeldes bleibt: ein verschwiegenes Detail, eine nicht erzählte Erinnerung, eine Leerstelle im Dialog. Diese bewusst generierte narratologische Ambiguität verweist auf eine Ästhetik des Unausgesprochenen, die Ozon seit Jahren kultiviert. Zugleich legt der Film ein Augenmerk auf die Interaktionen der Figuren, in denen latente Aggression, Unsicherheit und jahrzehntealte Konflikte immer wieder aufbrechen. Besonders eindrücklich gerät die Dynamik zwischen Michelle und ihrer Tochter, die stellvertretend für jene familiären Spannungsfelder steht, in denen Verletzungen sich nicht auflösen, sondern sedimentieren. Visuell arbeitet Ozon mit einer herbstlichen Palette, deren gedämpfte Farben den emotionalen Zustand der Figuren spiegeln: abgeklärte Melancholie, latente Trauer, ein Moment des Innehaltens.


© Weltkino Filmverleih

Der Film kombiniert naturalistische Lichtführung mit subtilen symbolischen Akzenten, die den Realismus nicht durchbrechen, sondern ihn untergründig aufladen. Die Begegnungen mit imaginären Erscheinungen – halb Erinnerung, halb Projektion – sind weniger Schockmomente als visuelle Metaphern einer brüchigen Selbstwahrnehmung. Besonders wirkungsvoll ist, wie der Film moralische Komplexität verhandelt, ohne sie didaktisch zu ordnen. Michelle erscheint zugleich als Täterin und Opfer, als jemand, der zu tiefen Loyalitäten fähig ist, aber auch zu Verdrängung und manipulativer Selbstrechtfertigung. Anstatt eindeutiger moralischer Urteile erzeugt der Film eine Ambivalenz, die die Zuschauer dazu zwingt, zwischen Empathie und Skepsis zu oszillieren. Darin zeigt sich Ozons filmische Reife: Er entfaltet menschliche Abgründe nicht als Konstruktion des Genres, sondern als strukturelle Möglichkeit des alltäglichen Lebens. Die Nebenfiguren – etwa der frisch aus dem Gefängnis entlassene Vincent oder Michelles Enkel Lucas – erweitern das Drama um unterschiedliche Formen der Abhängigkeit, Fürsorge und Identitätskrisen. Sie sind weniger dramaturgische Stützen als Spiegel für Michelles ambivalentes Gefüge aus Fürsorge und Schuld. In der Summe entsteht ein Familienporträt, das zwar vom Thriller gerahmt ist, aber letztlich ein psychologisches Drama über Verantwortung und die Unmöglichkeit eines eindeutigen Neuanfangs darstellt. Ozon entzieht sich dabei konsequent der Versuchung, das moralische Rätsel am Ende aufzulösen. Stattdessen setzt er auf ein offenes, bittersüßes Finale, das die Frage nach Wahrheit, Schuld und Vergebung bewusst in der Schwebe hält. Gerade diese Unabschließbarkeit verleiht Wenn der Herbst naht seine nachhaltige Wirkung: Der Film bleibt als atmosphärisches Echo im Gedächtnis, als Darstellung eines Lebens im Spätherbst, das sich selbst nicht mehr eindeutig lesen lässt – und vielleicht auch nie eindeutig war.

FAZIT
„Wenn der Herbst naht“ erweist sich als komplexes, elegantes psychologisches Drama, das die Mechanismen familiärer Verletzungen mit formaler Präzision und emotionaler Tiefe erkundet. Ozon gelingt ein Werk, das gleichzeitig spannungsvoll, zart und moralisch vielschichtig ist. Es ist ein Film, der seine Bedeutung erst nach und nach entfaltet und gerade dadurch ein lang anhaltendes Resonanzfeld erzeugt.


WENN DER HERBST NAHT

ET: 12.12.25: DVD und digital | FSK 12
R: François Ozon | D: Hélène Vincent, Josiane Balasko, Ludivine Sagnier
Griechenland, USA 2025 | Weltkino


AGB | IMPRESSUM