KLEINE
DINGE WIE DIESE
Ein stiller Aufschrei in sanften Tönen
Ein
stiller Film über moralische Zivilcourage: „Kleine Dinge
wie diese“ macht das Unsichtbare sichtbar – und verwandelt
alltägliches Schweigen in ein leises, zutiefst bewegendes Bekenntnis
zur Menschlichkeit. Cillian Murphy brilliert in einem Werk von seltener
emotionaler Klarheit.
Es
gibt Filme, die nicht durch spektakuläre Bilder oder aufdringliche
Dramatik wirken, sondern durch das, was sie unausgesprochen lassen.
„Kleine Dinge wie diese“ – die Verfilmung des gleichnamigen
Romans von Claire Keegan – gehört zu dieser seltenen Gattung.
Der Film, der nun für das Heimkino erschienen ist, entfaltet
seine Kraft in der Stille, in den feinen Gesten und in der unerschütterlichen
Menschlichkeit seines Protagonisten. Regisseur Tim Mielants hat aus
Keegans konzentrierter Prosa ein filmisches Kammerspiel gemacht, das
zugleich persönliche Schuld und gesellschaftliche Verdrängung
beleuchtet – und dabei zu einem der eindringlichsten moralischen
Dramen der letzten Jahre wird.
Im
Zentrum steht der Kohlenhändler Bill Furlong, gespielt von Cillian
Murphy, dessen zurückhaltendes Spiel den Ton des gesamten Films
prägt. Furlong lebt mit seiner Frau und den Töchtern in
einer irischen Kleinstadt Anfang der 1980er Jahre. Weihnachten steht
bevor, die Häuser sind geschmückt, der Alltag scheint in
beschaulicher Routine zu verlaufen. Doch unter der Oberfläche
dieses Idylls brodelt etwas Dunkles. Beim Ausliefern von Kohle an
ein nahegelegenes Kloster, das von Nonnen geführt wird, stößt
Furlong auf ein schreckliches Geheimnis: junge Frauen, die dort unter
Zwang festgehalten und zur Arbeit gezwungen werden – Opfer der
berüchtigten Magdalenenheime, jener realen Institutionen, in
denen unverheiratete Mütter und „gefallene Mädchen“
in Irland jahrzehntelang interniert und misshandelt wurden.
Die
Entdeckung bringt Furlong an die Grenze seiner eigenen moralischen
Komfortzone. Er, selbst aus bescheidenen Verhältnissen und von
einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, erkennt in den Schicksalen
der jungen Frauen sein eigenes Erbe wieder – und damit auch
die Verstrickung einer ganzen Gesellschaft in ein System des Schweigens.
Der Film entwickelt aus diesem inneren Konflikt keine melodramatische
Erlösungsgeschichte, sondern eine präzise psychologische
Studie über Zivilcourage und Verantwortung.
Tim
Mielants und Kamerafrau Frank van den Eeden nutzen das visuelle Vokabular
des Films mit großer Sensibilität. Die Bilder sind von
einem gedämpften Grau-Blau-Ton geprägt, der das winterliche
Irland nicht nur als Ort der Kälte, sondern auch der moralischen
Erstarrung erscheinen lässt. Licht bricht selten, und wenn, dann
in Form kleiner, fast unscheinbarer Gesten – etwa wenn Furlong
einer Nonne kurz in die Augen blickt oder die Hand einer jungen Frau
berührt, die in der Dunkelheit kauert. Solche Momente sind das
filmische Äquivalent zu Keegans präziser Sprache: Sie öffnen
Räume, ohne sie auszuleuchten.
Murphy,
der den Film auch produzierte, spielt Furlong mit einer zurückgenommenen
Intensität, die zwischen äußerer Ruhe und innerem
Aufruhr pendelt. Sein Gesicht, gezeichnet von Müdigkeit und Mitgefühl,
ist ein Spiegel der kollektiven moralischen Lähmung, die das
Irland jener Jahre prägte. Emily Watson als gestrenge Oberin
des Klosters steht ihm mit beeindruckender Kälte gegenüber:
Ihre Nonne ist keine Karikatur des Bösen, sondern die fleischgewordene
Selbstgerechtigkeit einer Kirche, die sich im Besitz der Wahrheit
wähnt.
Das
Drehbuch – sensibel adaptiert von Enda Walsh – bleibt
der literarischen Vorlage in ihrer Konzentration und ihrem moralischen
Ernst treu. Es erlaubt keine sentimentalen Abkürzungen, keine
überzeichnete Empörung. Stattdessen führt es uns schrittweise
in die Mechanismen einer Gesellschaft, die Schuld durch Routine kaschiert.
In diesem Sinn ist „Kleine Dinge wie diese“ nicht nur
ein Film über individuelle Courage, sondern auch über strukturelle
Blindheit: das Schweigen, das in kleinen Städten, in Familien
und hinter Klostermauern gleichermaßen herrscht.
Formal
knüpft der Film an die Tradition des britisch-irischen Sozialrealismus
an, doch er verleiht ihr eine poetische Dimension, die an Terence
Davies oder Ken Loach in seinen stillsten Momenten erinnert. Mielants
verzichtet auf das Spektakel der Anklage und findet seine Wahrhaftigkeit
in der Zartheit. Jede Bewegung, jeder Blick wird bedeutsam, weil er
ein moralisches Gewicht trägt. Wenn Furlong am Ende eine Entscheidung
trifft, die sein Leben verändert, geschieht das leise –
aber in dieser Stille liegt der eigentliche Aufschrei.
„Kleine
Dinge wie diese“ ist ein Film, der sich nicht aufdrängt,
sondern einnistet: in Gedanken, in Schuldgefühlen, in Fragen,
die man nicht mehr loswird. Er erzählt von der Kraft des Einzelnen,
dem Unrecht nicht länger zuzusehen – und davon, wie Mut
in seiner stillsten Form am lautesten klingen kann.
KRIEG DER WELTEN
ET:
25.09.25: EST / TVoD / DVD / Blu-ray | FSK 12
R: Tim Mielants | D: Cillian Murphy, Eileen Walsh, Emily Watson
Irland 2024 | PLAION PICTURES