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KINO | 01.10.2025

SIE LEBEN

John Carpenters SIE LEBEN kehrt am 7. Oktober im Rahmen der BEST OF CINEMA-Reihe ins Kino zurück. Der Klassiker von 1988 entlarvt den Kapitalismus als perfide Ideologie – mit Sonnenbrille und Satire. Ein subversives Meisterwerk, das heute aktueller wirkt als je zuvor.

von Franziska Keil


© 1988 STUDIOCANAL S.A.S. All Rights Reserved.

Am 7. Oktober 2025 kehrt John Carpenters SIE LEBEN im Rahmen der BEST OF CINEMA-Reihe für einen Abend auf die große Leinwand zurück – und selten hat ein Film aus dem Jahr 1988 so zeitgemäß gewirkt wie heute. Was damals als scharfsinnige Science-Fiction-Parabel auf den amerikanischen Kapitalismus und den Konsumwahn der Reagan-Ära galt, entfaltet in einer Gegenwart, die von algorithmischer Überwachung, medialer Manipulation und globaler Ungleichheit geprägt ist, eine fast unheimliche Aktualität. John Carpenter, der bereits mit „Halloween“, „The Thing“ und „Escape from New York“ filmische Meilensteine des Genrekinos gesetzt hatte, inszenierte THEY LIVE – so der Originaltitel – als sozio-politischen Albtraum im Gewand des B-Movies. Der Film ist zugleich Actionthriller, Science-Fiction-Groteske und subversive Kapitalismuskritik. Hinter der vordergründig simplen Prämisse – ein Wanderarbeiter entdeckt durch eine spezielle Sonnenbrille, dass die Welt von außerirdischen Parasiten kontrolliert wird – verbirgt sich ein brillanter Kommentar über Macht, Ideologie und die unsichtbaren Mechanismen sozialer Kontrolle. Die Geschichte folgt John Nada, gespielt von dem Wrestler Roddy Piper, der mit einer Mischung aus Naivität und rebellischem Furor zur mythischen Figur des „gewöhnlichen Mannes“ wird. Nada ist ein moderner Everyman, ein Tagelöhner, der zwischen Hochhäusern und Baustellen umherzieht – ein Produkt einer Welt, die Menschen konsumiert und ausspuckt. Als er die berühmte Sonnenbrille findet, die ihm die wahre Welt zeigt, erlebt er eine metaphysische Erweckung: Plakate offenbaren statt Werbebotschaften Befehle wie „Gehorche“, „Konsumiere“, „Heirate und vermehre dich“, während die Gesichter der Reichen und Mächtigen in groteske, skelettartige Fratzen mutieren. Carpenter nutzt dieses visuelle Motiv als metaphorisches Prisma für eine Gesellschaft, die in permanenter Hypnose lebt – betäubt durch Konsum, Medien und Wohlstandsfantasien. Die außerirdischen Invasoren sind dabei weniger Monster aus dem All als personifizierte Ideologien, eine satirische Verdichtung neoliberaler Strukturen, die Menschen zu Objekten degradiert. Der Film entlarvt den Kapitalismus nicht durch Predigt, sondern durch das groteske Bild: Die Brille wird zur Allegorie des Bewusstseins, das sich gegen die Verblendung wehrt. Formal setzt Carpenter auf die Mittel des Low-Budget-Kinos, die er virtuos beherrscht: nüchterne Kameraarbeit, sparsame Schnitte, ein minimalistischer, pulsierender Score, den er selbst komponierte. Diese formale Strenge erzeugt eine eigentümliche Spannung – eine Welt, die zugleich realistisch und albtraumhaft wirkt.


© 1988 STUDIOCANAL S.A.S. All Rights Reserved.

Besonders die legendäre achtminütige Prügelszene zwischen Nada und seinem Freund Frank (Keith David) ist längst Filmgeschichte: ein archaischer, fast absurdes Ritual der Überzeugung, das weit über seine physische Komik hinaus Bedeutung gewinnt. Es ist der Kampf zwischen Blindheit und Erkenntnis, zwischen Anpassung und Aufbegehren – choreografiert mit der Wucht eines mythischen Duells. Doch SIE LEBEN ist weit mehr als ein cleverer Genrebeitrag. Seine filmhistorische Bedeutung liegt in seiner Fähigkeit, popkulturelle Unterhaltung mit politischer Allegorie zu verschmelzen – eine Balance, die nur wenigen Regisseuren jener Zeit gelang. Carpenter schuf ein Werk, das aus der Perspektive des B-Films den ideologischen Unterbau der westlichen Moderne sezierte. Dabei ist sein Tonfall doppeldeutig: ironisch und ernst zugleich, zornig und verspielt. Er inszeniert eine Welt, in der jede Revolution bereits vom Warenkreislauf vereinnahmt wurde – ein Thema, das heute in der Ära der „ästhetisierten Rebellion“ aktueller denn je erscheint. Gerade in seiner simpel anmutenden Struktur entfaltet SIE LEBEN seine nachhaltige Wirkung. Die Erzählung bleibt linear, fast archetypisch, und doch trägt sie die Wucht eines politischen Manifests. Der Blick durch die Brille ist nichts anderes als der Blick hinter die Fassade – ein Moment filmischer Erkenntnis, der an Brechts Verfremdungseffekt erinnert. Carpenter zwingt sein Publikum, über das eigene Schauen nachzudenken: Was ist echt, was wird uns suggeriert, was haben wir längst akzeptiert? Mit seinem lakonischen Humor, seiner stilistischen Reduktion und seinem anarchischen Geist steht SIE LEBEN in einer Linie mit George A. Romeros „Dawn of the Dead“ oder Paul Verhoevens „RoboCop“ – Filme, die das Genre nutzten, um die Gesellschaft zu spiegeln. Doch wo Romero den Konsum als Todesspirale der Menschheit zeigte und Verhoeven den Faschismus im Actionkino entlarvte, wählte Carpenter den Weg der subtilen Parabel, verkleidet als Actionfilm. Dass dieser Film heute – 35 Jahre nach seiner Uraufführung – wieder im Kino zu sehen war, ist mehr als nostalgische Geste. Es ist ein Rückblick auf eine Ära, in der das Kino noch ein Ort der Rebellion war, ein Medium, das politische Wahrheiten in populäre Formen gießen konnte. In einer Zeit, in der das Visuelle von Algorithmen gefiltert und das Denken von Konsens geprägt wird, wirkt Carpenters Werk fast prophetisch: Die Brille mag heute virtuell sein, doch der Blick hinter die Fassade ist dringlicher denn je. Am Ende bleibt SIE LEBEN nicht nur ein Klassiker des Science-Fiction-Kinos, sondern eine zeitlose Warnung vor der Macht des Unsichtbaren – vor der Bequemlichkeit, die Wahrheit nicht sehen zu wollen. Carpenter hat mit schmalem Budget und maximaler Klarheit ein Werk geschaffen, das zwischen Philosophie, Popkultur und Punkästhetik oszilliert – ein Film, der mit jeder neuen Sichtung an Tiefe gewinnt.


SIE LEBEN

Wiederaufführungstermin: 07.10.25
R: John Carpenter | D: Roddy Piper, Keith David, Meg Foster
USA 1988 | StudioCanal Deutschland


 


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