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KINO | 26.11.2025

ANEMONE

In „Anemone“ kehrt Daniel Day-Lewis in einem filmischen Raum aus Nebel, Schmerz und patriarchalen Schatten zurück – und doch bleibt das Vater-Sohn-Projekt weit hinter seinen eigenen Ambitionen zurück. Die ästhetische Schwere des Films konkurriert mit wenigen, aber überwältigenden Momenten echter emotionaler Klarheit.

von Richard-Heinrich Tarenz


© 2025 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED.

Es gibt Filme, die im Modus permanenter Ernsthaftigkeit verharren, als wollten sie ihre eigene Gravitas wie eine Monstranz vor sich hertragen. „Anemone“, das düstere Vater-Sohn-Projekt von Daniel Day-Lewis und Ronan Day-Lewis, gehört zu dieser Sorte. Der Film – als große Rückkehr eines der bedeutendsten Schauspieler seiner Generation vermarktet – zeigt sich vor allem als bleischwere Meditation über unausgesprochene Schuld, familiäre Risse und die historische Last männlicher Härte. Doch wo er Tiefenschärfe anstrebt, gerät er häufig in eine von Symbolik überladene Strenge, die mehr erdrückt als berührt. Ronan Day-Lewis wählt für sein Regiedebüt das späte 1980er-Setting der nördlichen englischen Küstenlandschaft – ein Raum zwischen Moor und Meer, der wie geschaffen scheint für moralische Nebelzonen. Visuell fängt er diese Schwermut durchaus ein: graue Horizonte, karge Wälder, ein Licht, das sich eher hinter Wolken versteckt, als dass es eine Figur jemals wärmen könnte. Doch diese elegische Ästhetik wird zum Korsett. Die Bilder scheinen stets darauf bedacht, von Bedeutung zu sein – und verlieren gerade dadurch an natürlicher Kraft. Im Zentrum dieses gedämpften Universums steht Ray Stoker, ein Mann, der in Daniel Day-Lewis einen Darsteller findet, der wie kaum jemand anders innere Zerrissenheit aus Muskelspannung und Sprachlosigkeit formen kann. Ray ist ein Schatten seiner selbst, zurückgezogen in eine Hütte im Wald, ein Relikt traumatischer Erfahrungen im Nordirlandkonflikt. Day-Lewis gestaltet diese Figur mit der gewohnten Präzision und einer fast beunruhigenden Intensität. Seine Körpersprache erzählt mehr als die oft schwerfälligen Dialoge: ein Mann, der über Jahre hinweg verhärtete Schichten aus Schmerz und Scham angesammelt hat.


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Doch „Anemone“ verlässt sich zu stark auf die magnetische Präsenz seines Hauptdarstellers. Die wiederholten Inszenierungsmuster – blutige Hände, angedeutete Visionen, düstere Zimmer – sollen emotionale Abgründe symbolisieren, wirken aber oft wie austauschbare Versatzstücke einer allgemeinen „Trauma-Ästhetik“. Während Ray sich mit seinem Bruder Jem (Sean Bean) konfrontiert sieht, prallen zwei Männer aufeinander, die mehr schweigen als sprechen, mehr leiden als handeln. Der Konflikt zwischen ihnen entwickelt sich jedoch zu statisch, zu vorhersehbar, um die dramaturgische Wucht zu entfalten, die der Film offenkundig anstrebt. Die weiblichen Figuren bleiben erschreckend schematisch: Nessa (Samantha Morton) und Brians junge Bekanntschaft fungieren primär als Projektionsflächen für Geduld, Trost und Opferbereitschaft. In einem Film, der sich der Komplexität generationenübergreifender Wunden widmet, wirkt dies irritierend eindimensional und, schlimmer noch, dramaturgisch verschenkt. Erst in zwei zentralen Monologen – meisterhaft balanciert zwischen Zorn, Reue und verzweifelter Selbstentblößung – findet „Anemone“ zu einem erschütternden Kern. Hier gelingt Ronan Day-Lewis eine kongeniale Verdichtung: die Kamera kommt ihm erbarmungslos nahe, und Daniel Day-Lewis verwandelt die Szene in eine kathartische Erdung, die das zuvor angedeutete Trauma erstmals spürbar macht. Wenn der Film in diesen Momenten Gewicht bekommt, ist es das Gewicht der Authentizität – nicht der Stilmittel. Doch diese Höhepunkte bleiben vereinzelte Inseln in einem Meer aus betont bedeutungsvoller Inszenierung. Zwischen dröhnender Musik, überladenen Symbolen und einer finalen Sturmsequenz, die mehr Illustrationsgeste als emotionale Notwendigkeit ist, verliert „Anemone“ zu oft das Gleichgewicht.


ANEMONE

Start: 27.11.25 | FSK 12
R: Ronan Day-Lewis | D: Daniel Day-Lewis, Sean Bean, Samantha Morton
USA, Großbritannien 2025 | Universal Pictures Germany


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