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KINO | 31.12.2025

BON VOYAGE –
Bis hierher und noch weiter

Eine Tragikomödie über Selbstbestimmung, familiäre Sprachlosigkeit und die soziale Zumutung des Abschieds. Mit leichter Hand verhandelt „Bon Voyage – Bis hierher und noch weiter“ große ethische Fragen im Gewand des Roadmovies. Ein Film, der den Tod nicht dramatisiert, sondern als sozialen Resonanzraum begreift.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Happy Entertainment

Mit „Bon Voyage – Bis hierher und noch weiter“, der am 01. Januar in den Kinos startet, gelingt Regisseurin Enya Baroux ein bemerkenswert fein austariertes Werk, das existenzielle Fragen nicht über Pathos, sondern über soziale Beobachtung und leise Ironie verhandelt. Der Film stellt nicht den Tod selbst ins Zentrum, sondern die sozialen Verwerfungen, die entstehen, wenn Wissen ungleich verteilt ist: zwischen Generationen, innerhalb von Familien und zwischen institutioneller Fürsorge und persönlicher Autonomie. Ausgangspunkt ist die Entscheidung der 80-jährigen Marie, ihrem Leben angesichts einer zurückgekehrten Krebserkrankung selbstbestimmt ein Ende zu setzen. Diese Entscheidung wird nicht als dramatischer Schock inszeniert, sondern als ruhiger, fast nüchterner Akt der Selbstbehauptung. Sozialkritisch relevant wird der Film jedoch dort, wo diese Klarheit auf ein Umfeld trifft, das von Unsicherheit, ökonomischer Fragilität und emotionaler Unreife geprägt ist. Maries Sohn Bruno steht exemplarisch für eine überforderte mittlere Generation: finanziell gescheitert, emotional blockiert und unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Die Enkelin Anna wiederum verkörpert eine Jugend, die mit familiären Brüchen aufwächst und deren Widerständigkeit weniger Rebellion als Selbstschutz ist. Die gemeinsame Reise von Südfrankreich in Richtung Schweiz fungiert dabei als sozialer Möglichkeitsraum. Wie im klassischen Roadmovie wird Bewegung zur Bedingung von Erkenntnis. Doch anders als in vielen Genrevertretern geht es hier nicht um Flucht, sondern um Verzögerung: Marie lässt die Fahrt bewusst ausufern, um Nähe zu erzwingen, Gespräche zu ermöglichen und Beziehungen zumindest provisorisch zu reparieren. Diese dramaturgische Entscheidung ist von hoher sozialer Präzision, denn sie zeigt, wie selten Familien sich Zeit füreinander nehmen – und wie sehr erst eine Ausnahmesituation diese Zeit erzwingt. Besonders klug ist die Perspektivverschiebung, die der Film vornimmt. Marie blickt bereits mit einer gewissen Distanz auf die Welt, fast so, als habe sie sich innerlich schon verabschiedet.


© Happy Entertainment

Diese Haltung verleiht ihr eine moralische Autorität, die jedoch nie belehrend wirkt. Vielmehr entlarvt sie die Ängste der Zurückbleibenden als zutiefst menschlich: die Angst vor Verantwortung, vor Wahrheit, vor dem emotionalen Gewicht eines bewussten Abschieds. Der Film kritisiert damit subtil eine Gesellschaft, die den Tod auslagert – in Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen oder juristische Debatten – und ihn aus dem familiären Alltag verbannt. Hélène Vincent gestaltet Marie mit einer beeindruckenden Mischung aus Wärme, Witz und stiller Entschlossenheit. Ihre Figur ist keine Idealfigur des würdevollen Sterbens, sondern eine Frau mit Widersprüchen, Notlügen und Unsicherheiten. Gerade darin liegt ihre soziale Glaubwürdigkeit. Pierre Lottin als Pfleger Rudy fungiert als vermittelnde Instanz zwischen den Generationen und sozialen Milieus: pragmatisch, empathisch und zugleich selbst nicht frei von Eigenheiten. Seine Figur verweist auf die oft unsichtbare emotionale Arbeit von Pflegekräften, die nicht nur körperliche, sondern auch moralische Verantwortung tragen. Der Ton des Films oszilliert souverän zwischen Melancholie und Humor. Missverständnisse, kleine Lügen und familiäre Reibungen werden nicht zur Farce überzeichnet, sondern als Teil eines sozialen Gefüges gezeigt, das von Scham und unausgesprochenen Erwartungen geprägt ist. Der wiederkehrende musikalische Rückgriff auf einen ikonischen französischen Popsong verstärkt das Motiv des Unterwegsseins und verleiht der Erzählung eine fast schwebende Leichtigkeit, ohne ihre ethische Schwere zu unterlaufen. „Bon Voyage – Bis hierher und noch weiter“ ist damit weit mehr als ein Film über Sterbehilfe. Er ist eine präzise soziale Studie über Generationenverhältnisse, über die Unfähigkeit, ehrlich miteinander zu sprechen, und über den Wunsch nach Kontrolle in einer Welt voller Unwägbarkeiten. Indem der Film den Tod nicht als Endpunkt, sondern als Anlass für Begegnung begreift, formuliert er eine humane, zutiefst gesellschaftliche Perspektive: Selbstbestimmung endet nicht beim Individuum, sondern wirkt immer in das soziale Gefüge hinein.


BON VOYAGE - BIS HIERHER UND NOCH WEITER

Start: 01.01.26 | FSK 12
R: Enya Baroux | D: Hélène Vincent, Pierre Lottin, David Ayala
Frankreich 2025 | 24 Bilder


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