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KINO | 31.12.2025

DER FREMDE

Ein Kinoereignis zwischen Existenzialismus, Ästhetik und moralischer Zumutung. François Ozon verwandelt Camus’ Der Fremde in eine radikale Meditation über Sinn, Schuld und Indifferenz. Ein Film, der weniger Antworten gibt als Denkbewegungen erzwingt.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Foz - Gaumont - France 2 Cinema, Foto: Carole Bethuel

Mit „Der Fremde“, der am 01. Januar in den Kinos startet, wagt François Ozon eine ebenso ambitionierte wie herausfordernde Neuinterpretation eines der zentralen Texte des französischen Existenzialismus. Seine filmische Variation von Albert Camus’ gleichnamiger Novelle ist weniger Literaturverfilmung als philosophisches Experiment: ein Versuch, das Absurde nicht nur zu erzählen, sondern sinnlich erfahrbar zu machen. Ozon verschiebt dabei bewusst narrative Koordinaten und setzt nicht beim Tod der Mutter, sondern beim Mord selbst an. Diese Entscheidung ist programmatisch: Der Film beginnt dort, wo bei Camus die Konsequenz einer existenziellen Leere steht, und zwingt das Publikum, von der Tat rückwärts zu denken. Im Zentrum steht Meursault, ein junger Mann im Algier der späten 1930er-Jahre, dessen innere Haltung von radikaler Indifferenz geprägt ist. Gefühle erscheinen bei ihm nicht unterdrückt, sondern schlicht nicht vorhanden. Der Tod der Mutter wird zur administrativen Pflichtübung, soziale Rituale zur leeren Choreografie. Ozon inszeniert diese Gefühlsarmut nicht psychologisch erklärend, sondern ontologisch: Meursault ist kein traumatisierter Mensch, sondern ein Wesen, das der Welt ohne metaphysischen Filter begegnet. Damit wird er zur Verkörperung dessen, was Camus als das Absurde beschrieben hat – die Kollision zwischen menschlichem Sinnverlangen und einer gleichgültigen Welt. Philosophisch bewegt sich der Film klar im Spannungsfeld von Camus’ Denken. Leben, Tod und Mord erscheinen nicht als moralisch aufgeladene Kategorien, sondern als Ereignisse ohne transzendente Bedeutung. Der Mord selbst wirkt weniger wie ein Akt des Willens als wie eine beiläufige Konsequenz aus Hitze, Überforderung und innerer Leere. Ozon vermeidet jede psychologisierende Entlastung und folgt damit konsequent dem camusschen Moralnihilismus: Schuld entsteht nicht aus innerer Reue, sondern wird von außen, durch gesellschaftliche Normen und juristische Rituale, zugeschrieben. Diese Perspektive spiegelt sich auch in der Bildgestaltung. Die streng komponierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen verleihen dem Film eine zeitlose, beinahe museale Qualität. Jede Einstellung wirkt wie ein eingefrorener Gedanke, distanziert und zugleich von großer formaler Schönheit.


© Foz - Gaumont - France 2 Cinema, Foto: Carole Bethuel

Die Kamera zieht sich häufig zurück, verkleinert den Menschen im Verhältnis zur Welt und macht sichtbar, was die Philosophie behauptet: die Irrelevanz des Individuums im kosmischen Maßstab. Zeitlupen, Überblendungen und eine beinahe traumartige Montage erzeugen eine Wahrnehmung, die zwischen Subjektivität und Objektivität oszilliert – als wüsste man nie genau, ob man mit Meursault sieht oder ihn betrachtet. Zentral ist dabei die Frage des Blicks. Ozon zwingt das Publikum in eine unbequeme Position: Identifikation wird systematisch unterlaufen. Meursault, eindringlich und kühl gespielt von Benjamin Voisin, ist weder Sympathieträger noch klarer Antagonist. Er bleibt Projektionsfläche und Widerstand zugleich. Diese Irritation ist philosophisch produktiv, denn sie verweigert die gewohnte moralische Ordnung des Kinos. Der Zuschauer wird nicht geführt, sondern ausgesetzt – einer Haltung, die Camus’ Denken näherkommt als jede didaktische Erklärung. Gleichzeitig öffnet Ozon den Stoff für eine zeitgenössische Lesart. Meursault ist nicht nur existenziell fremd, sondern auch sozial und politisch verortet: als Teil einer passiven kolonialen Mittelschicht, die Gewalt, Ungleichheit und Unterdrückung nicht aktiv verursacht, aber schweigend hinnimmt. In dieser Perspektive wird „Der Fremde“ zu einem Kommentar auf moderne Lethargie, auf das stillschweigende Akzeptieren globaler Krisen. Die koloniale Dimension Algeriens, die bei Camus eher implizit bleibt, erhält hier neue Schärfe und verleiht dem Film eine soziopolitische Tiefendimension. Nicht alle Setzungen sind dabei frei von Überdeutlichkeit. Ozon greift stellenweise zum erklärenden Gestus, verdichtet philosophische Motive mitunter zu stark und riskiert, das Absurde zu illustrieren, statt es wirken zu lassen. Doch selbst diese Überzeichnungen fügen sich in das Gesamtkonzept eines Films, der weniger gefallen als fordern will. „Der Fremde“ ist keine Einladung zur Empathie, sondern zur Reflexion. So entsteht ein Werk, das sich dem Kino als Ort des Trostes verweigert und stattdessen als Denkraum fungiert. Ozon verbindet Camus’ existenzialistische Radikalität mit einer hochartifiziellen Filmsprache und schafft ein Werk, das schwer zugänglich, aber intellektuell lohnend ist. „Der Fremde“ ist ein Film wie ein philosophischer Knoten: kühl, brillant, unbequem – und gerade deshalb von nachhaltiger Wirkung.


DER FREMDE

Start: 01.01.26 | FSK 12
R: François Ozon | D: Benjamin Voisin, Rebecca Marder, Pierre Lottin
Frankreich, Belgien, Marokko 2025 | Weltkino Filmverleih


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