Ein Kinoereignis
zwischen Existenzialismus, Ästhetik und moralischer Zumutung.
François Ozon verwandelt Camus’ Der Fremde in eine radikale
Meditation über Sinn, Schuld und Indifferenz. Ein Film, der weniger
Antworten gibt als Denkbewegungen erzwingt.
Mit
„Der Fremde“, der am 01. Januar in den Kinos startet,
wagt François Ozon eine ebenso ambitionierte wie herausfordernde
Neuinterpretation eines der zentralen Texte des französischen
Existenzialismus. Seine filmische Variation von Albert Camus’
gleichnamiger Novelle ist weniger Literaturverfilmung als philosophisches
Experiment: ein Versuch, das Absurde nicht nur zu erzählen, sondern
sinnlich erfahrbar zu machen. Ozon verschiebt dabei bewusst narrative
Koordinaten und setzt nicht beim Tod der Mutter, sondern beim Mord
selbst an. Diese Entscheidung ist programmatisch: Der Film beginnt
dort, wo bei Camus die Konsequenz einer existenziellen Leere steht,
und zwingt das Publikum, von der Tat rückwärts zu denken.
Im Zentrum steht Meursault, ein junger Mann im Algier der späten
1930er-Jahre, dessen innere Haltung von radikaler Indifferenz geprägt
ist. Gefühle erscheinen bei ihm nicht unterdrückt, sondern
schlicht nicht vorhanden. Der Tod der Mutter wird zur administrativen
Pflichtübung, soziale Rituale zur leeren Choreografie. Ozon inszeniert
diese Gefühlsarmut nicht psychologisch erklärend, sondern
ontologisch: Meursault ist kein traumatisierter Mensch, sondern ein
Wesen, das der Welt ohne metaphysischen Filter begegnet. Damit wird
er zur Verkörperung dessen, was Camus als das Absurde beschrieben
hat – die Kollision zwischen menschlichem Sinnverlangen und
einer gleichgültigen Welt. Philosophisch bewegt sich der Film
klar im Spannungsfeld von Camus’ Denken. Leben, Tod und Mord
erscheinen nicht als moralisch aufgeladene Kategorien, sondern als
Ereignisse ohne transzendente Bedeutung. Der Mord selbst wirkt weniger
wie ein Akt des Willens als wie eine beiläufige Konsequenz aus
Hitze, Überforderung und innerer Leere. Ozon vermeidet jede psychologisierende
Entlastung und folgt damit konsequent dem camusschen Moralnihilismus:
Schuld entsteht nicht aus innerer Reue, sondern wird von außen,
durch gesellschaftliche Normen und juristische Rituale, zugeschrieben.
Diese Perspektive spiegelt sich auch in der Bildgestaltung. Die streng
komponierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen verleihen dem Film eine
zeitlose, beinahe museale Qualität. Jede Einstellung wirkt wie
ein eingefrorener Gedanke, distanziert und zugleich von großer
formaler Schönheit.
Die
Kamera zieht sich häufig zurück, verkleinert den Menschen
im Verhältnis zur Welt und macht sichtbar, was die Philosophie
behauptet: die Irrelevanz des Individuums im kosmischen Maßstab.
Zeitlupen, Überblendungen und eine beinahe traumartige Montage
erzeugen eine Wahrnehmung, die zwischen Subjektivität und Objektivität
oszilliert – als wüsste man nie genau, ob man mit Meursault
sieht oder ihn betrachtet. Zentral ist dabei die Frage des Blicks.
Ozon zwingt das Publikum in eine unbequeme Position: Identifikation
wird systematisch unterlaufen. Meursault, eindringlich und kühl
gespielt von Benjamin Voisin, ist weder Sympathieträger noch
klarer Antagonist. Er bleibt Projektionsfläche und Widerstand
zugleich. Diese Irritation ist philosophisch produktiv, denn sie verweigert
die gewohnte moralische Ordnung des Kinos. Der Zuschauer wird nicht
geführt, sondern ausgesetzt – einer Haltung, die Camus’
Denken näherkommt als jede didaktische Erklärung. Gleichzeitig
öffnet Ozon den Stoff für eine zeitgenössische Lesart.
Meursault ist nicht nur existenziell fremd, sondern auch sozial und
politisch verortet: als Teil einer passiven kolonialen Mittelschicht,
die Gewalt, Ungleichheit und Unterdrückung nicht aktiv verursacht,
aber schweigend hinnimmt. In dieser Perspektive wird „Der Fremde“
zu einem Kommentar auf moderne Lethargie, auf das stillschweigende
Akzeptieren globaler Krisen. Die koloniale Dimension Algeriens, die
bei Camus eher implizit bleibt, erhält hier neue Schärfe
und verleiht dem Film eine soziopolitische Tiefendimension. Nicht
alle Setzungen sind dabei frei von Überdeutlichkeit. Ozon greift
stellenweise zum erklärenden Gestus, verdichtet philosophische
Motive mitunter zu stark und riskiert, das Absurde zu illustrieren,
statt es wirken zu lassen. Doch selbst diese Überzeichnungen
fügen sich in das Gesamtkonzept eines Films, der weniger gefallen
als fordern will. „Der Fremde“ ist keine Einladung zur
Empathie, sondern zur Reflexion. So entsteht ein Werk, das sich dem
Kino als Ort des Trostes verweigert und stattdessen als Denkraum fungiert.
Ozon verbindet Camus’ existenzialistische Radikalität mit
einer hochartifiziellen Filmsprache und schafft ein Werk, das schwer
zugänglich, aber intellektuell lohnend ist. „Der Fremde“
ist ein Film wie ein philosophischer Knoten: kühl, brillant,
unbequem – und gerade deshalb von nachhaltiger Wirkung.
DER FREMDE
Start:
01.01.26 | FSK 12
R: François Ozon | D: Benjamin Voisin, Rebecca Marder, Pierre
Lottin
Frankreich, Belgien, Marokko 2025 | Weltkino Filmverleih