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KINO | 23.10.2025

Anatomie der Verdrängung
DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE

Kirill Serebrennikow zeichnet in „Das Verschwinden des Josef Mengele“ das Porträt eines Mannes, der sich selbst zum Mythos erklärt. August Diehl verkörpert den Täter mit unheimlicher Präzision – ein Mensch, gefangen in seiner eigenen Lüge. Ein Film von erschütternder moralischer Schärfe und formaler Eleganz.

von Franziska Keil


© Lupa Film, CG Cinema, Hype Studios

Am 23. Oktober kam Kirill Serebrennikows „Das Verschwinden des Josef Mengele“ in die deutschen Kinos – ein Werk, das weniger erzählt, wie jemand verschwindet, als vielmehr, wie jemand sich selbst aus der moralischen Welt löscht. Der russische Regisseur, seit Jahren im Berliner Exil, nähert sich in seinem beklemmenden Schwarz-Weiß-Drama dem Mythos des flüchtigen NS-Arztes nicht als Historiker, sondern als Sezierer einer Geisteshaltung. Sein Film ist kein klassisches Biopic, sondern eine Studie über das Versagen des Gewissens – und über die erschreckende Beständigkeit der Lüge. August Diehl, der den „Todesengel von Auschwitz“ mit kalter Präzision und zunehmender innerer Verwesung spielt, ist der fixierte Mittelpunkt dieser existentiellen Versuchsanordnung. Seine Darstellung ist kein Abbild eines Monsters, sondern das Porträt eines Mannes, der in seinem eigenen Selbstbetrug ertrinkt. Diehl zeigt Mengele als jemanden, der den Mantel der Zivilisiertheit so selbstverständlich trägt, dass man vergisst, was darunter verborgen liegt: ein Mann, der sich selbst für einen Wohltäter hält, der seine Opfer als Versuchsanordnung sieht und seine Schuld als Missverständnis.

Serebrennikows Blick bleibt dabei stets ruhig, unaufgeregt und unerbittlich. Seine Kamera beobachtet, ohne zu werten. In langen, klar komponierten Einstellungen tastet sie die Innenräume einer schäbigen südamerikanischen Existenz ab – Zimmer, in denen die Zeit stillzustehen scheint, Räume, die von Einsamkeit und Angst durchdrungen sind. Die formale Strenge des Schwarz-Weiß-Bildes wirkt hier wie ein moralischer Kommentar: Alles ist reduziert auf Hell und Dunkel, Wahrheit und Lüge, Erinnerung und Verdrängung. Ein Moment von beinahe perfider Brillanz ereignet sich, wenn Serebrennikow nach einer bedrückenden Szene in das Bild eines idyllischen Sees schneidet – ein Trugbild, in dem Mengele und seine Frau lachend im Wasser planschen. Das Sonnenlicht glitzert auf der Oberfläche, und für einen Augenblick scheint alles unbeschwert. Doch genau darin liegt der Horror. Wie in Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ entfaltet sich das Grauen in der Banalität des Normalen: im Bild eines Mannes, der das Unfassbare verdrängt, indem er sich an die triviale Schönheit eines Sommertages klammert.


© Lupa Film, CG Cinema, Hype Studios

Serebrennikow interessiert sich nicht für den Täter als Dämon, sondern als Symptom. Sein Mengele ist kein Exzess des Bösen, sondern dessen Fortsetzung im Alltäglichen. Der Film wird so zur Parabel auf die moralische Blindheit einer ganzen Epoche – auf das Nachkriegsdeutschland, das die Täter der Vergangenheit nicht nur kannte, sondern sie zum Teil wieder in Amt und Würden brachte. Wenn Mengele in Brasilien unter alten Nazis Feste feiert, die Fahnen geschwenkt und Lieder gesungen werden, dann offenbart sich darin die Unfähigkeit, Schuld als etwas anderes zu begreifen als ein Unglück, das einem selbst widerfahren ist. In diesen Momenten erreicht „Das Verschwinden des Josef Mengele“ eine erschütternde Klarheit. Der Film verweigert jedes Pathos, jede billige Katharsis. Er zeigt, wie ein Mensch, der das Monströse verinnerlicht hat, in der eigenen Selbsttäuschung zugrunde geht. Das Ende, in dem Mengele – ironischerweise – beim Schwimmen ertrinkt, ist keine moralische Genugtuung, sondern die letzte Konsequenz eines Lebens, das im Verdrängen versteinert ist.

Heute liegen Mengeles Gebeine in São Paulo, wo sie Medizinstudenten zu Lehrzwecken dienen – ein makabrer, aber symbolträchtiger Schlusspunkt. Der Körper des Täters ist nun selbst Objekt wissenschaftlicher Untersuchung. Was einst als Perversion der Forschung begann, endet in der nüchternen Rationalität der Aufklärung. Kirill Serebrennikow hat mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“ kein konventionelles Historienkino geschaffen, sondern eine filmische Meditation über Schuld, Identität und das menschliche Bedürfnis nach Selbstentlastung. Sein Werk konfrontiert das Publikum nicht mit den Schrecken des Lagers, sondern mit der Leere, die danach bleibt – einer Leere, in der sich das Böse häuslich eingerichtet hat.


DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE

Start: 23.10.25 | FSK 12
R: Kirill Serebrennikov | D: August Diehl, Maximilian Meyer-Bretschneider, Friederike Becht
Deutschland, Frankreich 2025 | DCM Filmdistribution


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