Anatomie
der Verdrängung DAS
VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE
Kirill
Serebrennikow zeichnet in „Das Verschwinden des Josef Mengele“
das Porträt eines Mannes, der sich selbst zum Mythos erklärt.
August Diehl verkörpert den Täter mit unheimlicher Präzision
– ein Mensch, gefangen in seiner eigenen Lüge. Ein Film
von erschütternder moralischer Schärfe und formaler Eleganz.
Am
23. Oktober kam Kirill Serebrennikows „Das Verschwinden des
Josef Mengele“ in die deutschen Kinos – ein Werk, das
weniger erzählt, wie jemand verschwindet, als vielmehr, wie jemand
sich selbst aus der moralischen Welt löscht. Der russische Regisseur,
seit Jahren im Berliner Exil, nähert sich in seinem beklemmenden
Schwarz-Weiß-Drama dem Mythos des flüchtigen NS-Arztes
nicht als Historiker, sondern als Sezierer einer Geisteshaltung. Sein
Film ist kein klassisches Biopic, sondern eine Studie über das
Versagen des Gewissens – und über die erschreckende Beständigkeit
der Lüge. August Diehl, der den „Todesengel von Auschwitz“
mit kalter Präzision und zunehmender innerer Verwesung spielt,
ist der fixierte Mittelpunkt dieser existentiellen Versuchsanordnung.
Seine Darstellung ist kein Abbild eines Monsters, sondern das Porträt
eines Mannes, der in seinem eigenen Selbstbetrug ertrinkt. Diehl zeigt
Mengele als jemanden, der den Mantel der Zivilisiertheit so selbstverständlich
trägt, dass man vergisst, was darunter verborgen liegt: ein Mann,
der sich selbst für einen Wohltäter hält, der seine
Opfer als Versuchsanordnung sieht und seine Schuld als Missverständnis.
Serebrennikows
Blick bleibt dabei stets ruhig, unaufgeregt und unerbittlich. Seine
Kamera beobachtet, ohne zu werten. In langen, klar komponierten Einstellungen
tastet sie die Innenräume einer schäbigen südamerikanischen
Existenz ab – Zimmer, in denen die Zeit stillzustehen scheint,
Räume, die von Einsamkeit und Angst durchdrungen sind. Die formale
Strenge des Schwarz-Weiß-Bildes wirkt hier wie ein moralischer
Kommentar: Alles ist reduziert auf Hell und Dunkel, Wahrheit und Lüge,
Erinnerung und Verdrängung. Ein Moment von beinahe perfider Brillanz
ereignet sich, wenn Serebrennikow nach einer bedrückenden Szene
in das Bild eines idyllischen Sees schneidet – ein Trugbild,
in dem Mengele und seine Frau lachend im Wasser planschen. Das Sonnenlicht
glitzert auf der Oberfläche, und für einen Augenblick scheint
alles unbeschwert. Doch genau darin liegt der Horror. Wie in Jonathan
Glazers „The Zone of Interest“ entfaltet sich das Grauen
in der Banalität des Normalen: im Bild eines Mannes, der das
Unfassbare verdrängt, indem er sich an die triviale Schönheit
eines Sommertages klammert.
Serebrennikow
interessiert sich nicht für den Täter als Dämon, sondern
als Symptom. Sein Mengele ist kein Exzess des Bösen, sondern
dessen Fortsetzung im Alltäglichen. Der Film wird so zur Parabel
auf die moralische Blindheit einer ganzen Epoche – auf das Nachkriegsdeutschland,
das die Täter der Vergangenheit nicht nur kannte, sondern sie
zum Teil wieder in Amt und Würden brachte. Wenn Mengele in Brasilien
unter alten Nazis Feste feiert, die Fahnen geschwenkt und Lieder gesungen
werden, dann offenbart sich darin die Unfähigkeit, Schuld als
etwas anderes zu begreifen als ein Unglück, das einem selbst
widerfahren ist. In diesen Momenten erreicht „Das Verschwinden
des Josef Mengele“ eine erschütternde Klarheit. Der Film
verweigert jedes Pathos, jede billige Katharsis. Er zeigt, wie ein
Mensch, der das Monströse verinnerlicht hat, in der eigenen Selbsttäuschung
zugrunde geht. Das Ende, in dem Mengele – ironischerweise –
beim Schwimmen ertrinkt, ist keine moralische Genugtuung, sondern
die letzte Konsequenz eines Lebens, das im Verdrängen versteinert
ist.
Heute
liegen Mengeles Gebeine in São Paulo, wo sie Medizinstudenten
zu Lehrzwecken dienen – ein makabrer, aber symbolträchtiger
Schlusspunkt. Der Körper des Täters ist nun selbst Objekt
wissenschaftlicher Untersuchung. Was einst als Perversion der Forschung
begann, endet in der nüchternen Rationalität der Aufklärung.
Kirill Serebrennikow hat mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“
kein konventionelles Historienkino geschaffen, sondern eine filmische
Meditation über Schuld, Identität und das menschliche Bedürfnis
nach Selbstentlastung. Sein Werk konfrontiert das Publikum nicht mit
den Schrecken des Lagers, sondern mit der Leere, die danach bleibt
– einer Leere, in der sich das Böse häuslich eingerichtet
hat.
DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE
Start:
23.10.25 | FSK 12
R: Kirill Serebrennikov | D: August Diehl, Maximilian Meyer-Bretschneider,
Friederike Becht
Deutschland, Frankreich 2025 | DCM Filmdistribution