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KINO | 17.09.2025

HOME IS THE OCEAN

Mit HOME IS THE OCEAN gelingt Livia Vonaesch ein intensiver Blick auf eine Familie, die seit über zwanzig Jahren auf hoher See lebt. Zwischen poetischen Bildern und existenziellen Fragen entfaltet sich ein Dokumentarfilm über Freiheit, Verantwortung und die Grenzen familiärer Nähe. Ein Werk von stiller, nachwirkender Kraft.

von Franziska Keil


© ICAN FILMS

Am 25. September startet mit HOME IS THE OCEAN ein Dokumentarfilm in den Kinos, der die Sehnsucht nach Freiheit mit den Herausforderungen des Alltags auf hoher See konfrontiert. Regisseurin Livia Vonaesch begleitet die Familie Schwörer, die seit mehr als zwei Jahrzehnten auf ihrer Yacht „Pachamama“ lebt und mit sechs Kindern die Weltmeere bereist. Das Leben auf knapp zwanzig Quadratmetern Wohnfläche wird dabei zu einer radikalen Lebensform, die Privatsphäre nahezu unmöglich macht und die Familie permanent an die Grenzen gemeinschaftlichen Zusammenlebens führt. Der Film überzeugt in seiner Bildsprache durch eine bemerkenswerte Nähe, die das Abenteuerhafte des Unterfangens ebenso wie die Fragilität dieses nomadischen Lebens sichtbar macht. Ob die Kamera das Boot durch packende Eisfelder gleiten sieht oder die Weite des offenen Ozeans einfängt – stets vermittelt sich eine poetische Dimension des Lebens in ständiger Bewegung. Besonders eindrücklich sind jene Szenen, die mit einer Go-Pro-Kamera aus der Perspektive der Kinder gedreht wurden: wenn die dreizehnjährige Selina nachts das Ruder übernimmt, das Knarren der Planken zu hören ist und der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe nur einen winzigen Ausschnitt der bedrohlichen Dunkelheit erhellt, dann wird das Publikum unmittelbar in das Gefühl von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit hineingezogen. Diese subjektive Perspektive verleiht dem Dokumentarfilm eine Authentizität, die über klassische Beobachtung hinausgeht. Auch in den Momenten, in denen Sohn Andri den Mast erklimmt, vermittelt die Kamera mehr als nur ein Bild – sie vermittelt körperliche Erfahrung, das Zittern der Höhe, die Gefahr eines Fehltritts. Solche Szenen sind nicht nur visuelle Höhepunkte, sondern auch Metaphern für den Balanceakt zwischen kindlicher Selbstfindung und familiärem Zusammenhalt. Thematisch ist HOME IS THE OCEAN ebenso vielschichtig wie ambivalent. Einerseits lebt die Familie ihre Überzeugung von Nachhaltigkeit, indem sie Vorträge hält, Plastik aus dem Meer fischt oder wissenschaftliche Wasserproben sammelt. Diese gelebte Umweltverantwortung fügt dem Film eine politische Dimension hinzu, die ihn über das Porträt einer ungewöhnlichen Lebensgemeinschaft hinaushebt.


© ICAN FILMS

Andererseits spart Vonaesch die kritischen Fragen nicht völlig aus, sondern deutet Spannungen an: Was bedeutet es für die älteren Kinder, wenn sie in einer Lebensform aufwachsen, die ihre eigenen Träume nur bedingt zulässt? Welche Rolle spielen die Eltern, die im entscheidenden Moment Verantwortung auch durch Gebete zu delegieren scheinen, wenn die See bedrohlich wird? Der Film zeigt die Schwörers als eine Familie, die Stärke aus Zusammenhalt schöpft und zugleich unter den Konsequenzen ihrer radikalen Entscheidung leidet. Dass Vonaesch dabei auf eine streng kritische Distanz verzichtet, ist einerseits der Grund für die emotionale Nähe, die HOME IS THE OCEAN so wirkungsvoll macht. Andererseits nimmt es dem Film jene Ecken und Kanten, die eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen dieser Lebensform ermöglicht hätten. Gerade weil die Bilder von erhabener Schönheit sind, bleibt die Frage nach den inneren Konflikten im Hintergrund – ein Spannungsfeld, das der Film nur anreißt. In seiner filmischen Haltung fügt sich HOME IS THE OCEAN in eine Tradition von Dokumentarfilmen ein, die das Meer als Projektionsfläche menschlicher Existenz begreifen. Anders als investigative Arbeiten wie „Seaspiracy“, die die ökologischen Zerstörungen der Meere schonungslos aufdecken, oder poetische Selbstreflexionen wie „Walden“, die das Rückzugsbedürfnis in der Natur thematisieren, verbindet Vonaesch das Private mit dem Globalen. Sie zeigt die Ozeane nicht primär als Bedrohung oder als Idylle, sondern als Lebensraum, der zugleich Sehnsucht und Zumutung, Freiheit und Enge in sich vereint. Damit markiert HOME IS THE OCEAN einen eigenständigen Beitrag innerhalb der Filmgeschichte: einen Film, der weniger durch Enthüllungen, sondern durch seine leise Beharrlichkeit wirkt. Insgesamt ist HOME IS THE OCEAN ein Werk, das nicht in erster Linie Antworten liefert, sondern Erfahrungen vermittelt. Es öffnet den Blick für die Verheißungen und Zumutungen eines nomadischen Familienlebens und macht spürbar, wie eng Idealismus, Gefahr und Sehnsucht miteinander verwoben sind. Vonaeschs Dokumentarfilm ist eine Einladung, die Ozeane nicht nur als geografische Räume zu verstehen, sondern als Spiegel für die menschliche Suche nach Freiheit – und nach einem Zuhause, das auch in der Unendlichkeit des Meeres wurzeln kann.


HOME IS THE OCEAN

Start: 25.09.25 | FSK 6
R: Livia Vonaesch | Dokumentarfilm
Schweiz 2024 | mindjazz pictures


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