Mit HOME
IS THE OCEAN gelingt Livia Vonaesch ein intensiver Blick auf eine
Familie, die seit über zwanzig Jahren auf hoher See lebt. Zwischen
poetischen Bildern und existenziellen Fragen entfaltet sich ein Dokumentarfilm
über Freiheit, Verantwortung und die Grenzen familiärer
Nähe. Ein Werk von stiller, nachwirkender Kraft.
Am
25. September startet mit HOME IS THE OCEAN ein Dokumentarfilm in
den Kinos, der die Sehnsucht nach Freiheit mit den Herausforderungen
des Alltags auf hoher See konfrontiert. Regisseurin Livia Vonaesch
begleitet die Familie Schwörer, die seit mehr als zwei Jahrzehnten
auf ihrer Yacht „Pachamama“ lebt und mit sechs Kindern
die Weltmeere bereist. Das Leben auf knapp zwanzig Quadratmetern Wohnfläche
wird dabei zu einer radikalen Lebensform, die Privatsphäre nahezu
unmöglich macht und die Familie permanent an die Grenzen gemeinschaftlichen
Zusammenlebens führt. Der Film überzeugt in seiner Bildsprache
durch eine bemerkenswerte Nähe, die das Abenteuerhafte des Unterfangens
ebenso wie die Fragilität dieses nomadischen Lebens sichtbar
macht. Ob die Kamera das Boot durch packende Eisfelder gleiten sieht
oder die Weite des offenen Ozeans einfängt – stets vermittelt
sich eine poetische Dimension des Lebens in ständiger Bewegung.
Besonders eindrücklich sind jene Szenen, die mit einer Go-Pro-Kamera
aus der Perspektive der Kinder gedreht wurden: wenn die dreizehnjährige
Selina nachts das Ruder übernimmt, das Knarren der Planken zu
hören ist und der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe nur einen winzigen
Ausschnitt der bedrohlichen Dunkelheit erhellt, dann wird das Publikum
unmittelbar in das Gefühl von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit
hineingezogen. Diese subjektive Perspektive verleiht dem Dokumentarfilm
eine Authentizität, die über klassische Beobachtung hinausgeht.
Auch in den Momenten, in denen Sohn Andri den Mast erklimmt, vermittelt
die Kamera mehr als nur ein Bild – sie vermittelt körperliche
Erfahrung, das Zittern der Höhe, die Gefahr eines Fehltritts.
Solche Szenen sind nicht nur visuelle Höhepunkte, sondern auch
Metaphern für den Balanceakt zwischen kindlicher Selbstfindung
und familiärem Zusammenhalt. Thematisch ist HOME IS THE OCEAN
ebenso vielschichtig wie ambivalent. Einerseits lebt die Familie ihre
Überzeugung von Nachhaltigkeit, indem sie Vorträge hält,
Plastik aus dem Meer fischt oder wissenschaftliche Wasserproben sammelt.
Diese gelebte Umweltverantwortung fügt dem Film eine politische
Dimension hinzu, die ihn über das Porträt einer ungewöhnlichen
Lebensgemeinschaft hinaushebt.
Andererseits
spart Vonaesch die kritischen Fragen nicht völlig aus, sondern
deutet Spannungen an: Was bedeutet es für die älteren Kinder,
wenn sie in einer Lebensform aufwachsen, die ihre eigenen Träume
nur bedingt zulässt? Welche Rolle spielen die Eltern, die im
entscheidenden Moment Verantwortung auch durch Gebete zu delegieren
scheinen, wenn die See bedrohlich wird? Der Film zeigt die Schwörers
als eine Familie, die Stärke aus Zusammenhalt schöpft und
zugleich unter den Konsequenzen ihrer radikalen Entscheidung leidet.
Dass Vonaesch dabei auf eine streng kritische Distanz verzichtet,
ist einerseits der Grund für die emotionale Nähe, die HOME
IS THE OCEAN so wirkungsvoll macht. Andererseits nimmt es dem Film
jene Ecken und Kanten, die eine tiefergehende Auseinandersetzung mit
den Ambivalenzen dieser Lebensform ermöglicht hätten. Gerade
weil die Bilder von erhabener Schönheit sind, bleibt die Frage
nach den inneren Konflikten im Hintergrund – ein Spannungsfeld,
das der Film nur anreißt. In seiner filmischen Haltung fügt
sich HOME IS THE OCEAN in eine Tradition von Dokumentarfilmen ein,
die das Meer als Projektionsfläche menschlicher Existenz begreifen.
Anders als investigative Arbeiten wie „Seaspiracy“, die
die ökologischen Zerstörungen der Meere schonungslos aufdecken,
oder poetische Selbstreflexionen wie „Walden“, die das
Rückzugsbedürfnis in der Natur thematisieren, verbindet
Vonaesch das Private mit dem Globalen. Sie zeigt die Ozeane nicht
primär als Bedrohung oder als Idylle, sondern als Lebensraum,
der zugleich Sehnsucht und Zumutung, Freiheit und Enge in sich vereint.
Damit markiert HOME IS THE OCEAN einen eigenständigen Beitrag
innerhalb der Filmgeschichte: einen Film, der weniger durch Enthüllungen,
sondern durch seine leise Beharrlichkeit wirkt. Insgesamt ist HOME
IS THE OCEAN ein Werk, das nicht in erster Linie Antworten liefert,
sondern Erfahrungen vermittelt. Es öffnet den Blick für
die Verheißungen und Zumutungen eines nomadischen Familienlebens
und macht spürbar, wie eng Idealismus, Gefahr und Sehnsucht miteinander
verwoben sind. Vonaeschs Dokumentarfilm ist eine Einladung, die Ozeane
nicht nur als geografische Räume zu verstehen, sondern als Spiegel
für die menschliche Suche nach Freiheit – und nach einem
Zuhause, das auch in der Unendlichkeit des Meeres wurzeln kann.