SOLIDARITY
ist kein Film der einfachen Antworten, sondern einer der beharrlichen
Fragen. David Bernet zeigt, wie brüchig das Versprechen der Solidarität
geworden ist – und wie dringend wir es neu denken müssen.
Ein kluger, leiser und zugleich politisch scharfer Film.
Am
25. September startet mit SOLIDARITY ein Dokumentarfilm in den Kinos,
der nicht in erster Linie Antworten liefert, sondern Fragen stellt
– und gerade darin seine Kraft entfaltet. Regisseur David Bernet,
bekannt durch „Democracy – Im Rausch der Daten“,
widmet sich in seinem neuen Werk einem Begriff, der in politischen
Sonntagsreden allgegenwärtig ist und doch in der Realität
zunehmend widersprüchlich erscheint: Solidarität. Achtzig
Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen – gegründet
im Namen des Friedens und der gegenseitigen Verantwortung –
wirft der Film die unbequeme Frage auf, ob dieses Versprechen noch
trägt, oder ob Solidarität längst zu einer selektiven
Haltung geworden ist, die mit zweierlei Maß misst. Bernet setzt
hierfür bei konkreten Schauplätzen an: im Herbst 2021 an
der polnisch-ukrainischen Grenze, wo Geflüchteten aus dem Nahen
Osten jede Hilfe verwehrt wird, um wenige Monate später die Welle
der Hilfsbereitschaft für ukrainische Kriegsflüchtlinge
zu dokumentieren. Diese Gegenüberstellung, die das Herzstück
des Films bildet, macht das moralische Dilemma sichtbar, das in politischen
wie gesellschaftlichen Diskursen oft unterdrückt wird. Die Erzählung
ist getragen von drei Protagonistinnen, die auf ganz unterschiedlichen
Ebenen mit den Realitäten der Flüchtlingspolitik konfrontiert
sind: Marta Siciarek, eine polnische Menschenrechtsaktivistin, Gillian
Triggs, Vizechefin des UN-Flüchtlingshilfswerks, und Christine
Goyer, UNHCR-Repräsentantin in Polen. Ihre Arbeit, die zwischen
pragmatischer Organisation und moralischer Überforderung oszilliert,
wird durch Bernets ruhige, fast kontemplative Off-Stimme kommentiert.
Der Film verweigert sich dem hektischen Rhythmus der Nachrichtenbilder,
die wir aus den täglichen Schlagzeilen kennen, und gewinnt dadurch
eine ästhetische Intensität. Im Cinemascope-Format entfalten
Szenen an der Grenze, in Lagern oder Konferenzräumen eine bedrückende
Größe – als wollte Bernet betonen, dass es sich hier
nicht um Randnotizen handelt, sondern um zentrale Fragen unserer Zeit.
Bernets Ansatz reiht sich in eine lange Tradition politisch engagierter
Dokumentarfilme aus Deutschland und der Schweiz ein. Bereits in den
1960er-Jahren setzten die Regisseure des Neuen Deutschen Films –
etwa Alexander Kluge mit „Abschied von gestern“ oder später
Volker Koepp und Harun Farocki – auf das dokumentarische Medium,
um gesellschaftliche Missstände sichtbar zu machen.
In
der Schweiz wiederum prägten Filmemacher wie Richard Dindo oder
Fredi M. Murer das Verständnis des Dokumentarischen als moralische
Instanz, die sich dezidiert in politische Debatten einmischt. Dabei
stand stets weniger die objektive Chronik als vielmehr die subjektive
Perspektive im Vordergrund, die den Zuschauer aktiv in die Verantwortung
nimmt. Bernet führt diese Tradition fort, indem er weder distanzierte
Neutralität noch plakative Skandalisierung sucht, sondern die
Ambivalenzen von Macht, Moral und Mitgefühl herausarbeitet. Damit
verleiht er dem politischen Dokumentarfilm eine zeitgenössische
Relevanz, die ihn jenseits bloßer Faktensammlung zu einem Instrument
der kritischen Selbstvergewisserung macht. Ergänzt wird diese
Linie durch die Auftritte zweier Männer: Filippo Grandi, UN-Hochkommissar
für Flüchtlingsfragen, und Bashshar Haydar, ein libanesischer
Philosoph, der die „dunkle Seite der europäischen Solidarität“
präzise benennt. Seine These, dass Empathie in Europa nach geographischer,
kultureller oder religiöser Nähe bemessen wird, legt die
Bruchlinien offen, die Solidarität in einen fragilen und ambivalenten
Begriff verwandeln. Formal bewegt sich der Film zwischen analytischem
Essay und beobachtender Dokumentation. Zwar bringt er wenig faktisch
Neues, doch gerade die Verlangsamung, die Wiederholung und das insistierende
In-den-Raum-Stellen der Fragen machen ihn zu einem eindringlichen
Appell. Das Beispiel einer Familie in einem jordanischen Lager, die
seit zwölf Jahren in provisorischen Behausungen ausharrt, verleiht
dem Diskurs eine erschütternde Konkretion: Solidarität,
so wird klar, darf nicht nur als kurzfristiger Reflex verstanden werden,
sondern muss im Alltag und auf Dauer praktiziert werden.
SOLIDARITY ist damit kein Film, der sich durch
Enthüllungen profiliert. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin,
dass er moralische Selbstverständlichkeiten hinterfragt und das
Publikum zwingt, das eigene Verständnis von Solidarität
zu überprüfen. Bernet gelingt eine ruhige, kluge und zugleich
zutiefst politische Arbeit, die dem Zuschauer die bequeme Distanz
entzieht. So ist SOLIDARITY weniger ein Bericht über humanitäre
Krisen als eine Reflexion über die Spannungen zwischen Ideal
und Realität, zwischen Anspruch und Praxis. Ein Film, der sich
nicht in der Skandalisierung erschöpft, sondern einlädt,
Verantwortung neu zu denken – und damit genau das leistet, was
engagiertes Dokumentarkino ausmacht: Es macht das Unsichtbare sichtbar
und zwingt uns, über die vermeintlichen Gewissheiten unserer
Zeit neu nachzudenken.