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KINO | 17.09.2025

SOLIDARITY

SOLIDARITY ist kein Film der einfachen Antworten, sondern einer der beharrlichen Fragen. David Bernet zeigt, wie brüchig das Versprechen der Solidarität geworden ist – und wie dringend wir es neu denken müssen. Ein kluger, leiser und zugleich politisch scharfer Film.

von Franziska Keil


© INDI-FILM

Am 25. September startet mit SOLIDARITY ein Dokumentarfilm in den Kinos, der nicht in erster Linie Antworten liefert, sondern Fragen stellt – und gerade darin seine Kraft entfaltet. Regisseur David Bernet, bekannt durch „Democracy – Im Rausch der Daten“, widmet sich in seinem neuen Werk einem Begriff, der in politischen Sonntagsreden allgegenwärtig ist und doch in der Realität zunehmend widersprüchlich erscheint: Solidarität. Achtzig Jahre nach der Gründung der Vereinten Nationen – gegründet im Namen des Friedens und der gegenseitigen Verantwortung – wirft der Film die unbequeme Frage auf, ob dieses Versprechen noch trägt, oder ob Solidarität längst zu einer selektiven Haltung geworden ist, die mit zweierlei Maß misst. Bernet setzt hierfür bei konkreten Schauplätzen an: im Herbst 2021 an der polnisch-ukrainischen Grenze, wo Geflüchteten aus dem Nahen Osten jede Hilfe verwehrt wird, um wenige Monate später die Welle der Hilfsbereitschaft für ukrainische Kriegsflüchtlinge zu dokumentieren. Diese Gegenüberstellung, die das Herzstück des Films bildet, macht das moralische Dilemma sichtbar, das in politischen wie gesellschaftlichen Diskursen oft unterdrückt wird. Die Erzählung ist getragen von drei Protagonistinnen, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit den Realitäten der Flüchtlingspolitik konfrontiert sind: Marta Siciarek, eine polnische Menschenrechtsaktivistin, Gillian Triggs, Vizechefin des UN-Flüchtlingshilfswerks, und Christine Goyer, UNHCR-Repräsentantin in Polen. Ihre Arbeit, die zwischen pragmatischer Organisation und moralischer Überforderung oszilliert, wird durch Bernets ruhige, fast kontemplative Off-Stimme kommentiert. Der Film verweigert sich dem hektischen Rhythmus der Nachrichtenbilder, die wir aus den täglichen Schlagzeilen kennen, und gewinnt dadurch eine ästhetische Intensität. Im Cinemascope-Format entfalten Szenen an der Grenze, in Lagern oder Konferenzräumen eine bedrückende Größe – als wollte Bernet betonen, dass es sich hier nicht um Randnotizen handelt, sondern um zentrale Fragen unserer Zeit. Bernets Ansatz reiht sich in eine lange Tradition politisch engagierter Dokumentarfilme aus Deutschland und der Schweiz ein. Bereits in den 1960er-Jahren setzten die Regisseure des Neuen Deutschen Films – etwa Alexander Kluge mit „Abschied von gestern“ oder später Volker Koepp und Harun Farocki – auf das dokumentarische Medium, um gesellschaftliche Missstände sichtbar zu machen.


© INDI-FILM

In der Schweiz wiederum prägten Filmemacher wie Richard Dindo oder Fredi M. Murer das Verständnis des Dokumentarischen als moralische Instanz, die sich dezidiert in politische Debatten einmischt. Dabei stand stets weniger die objektive Chronik als vielmehr die subjektive Perspektive im Vordergrund, die den Zuschauer aktiv in die Verantwortung nimmt. Bernet führt diese Tradition fort, indem er weder distanzierte Neutralität noch plakative Skandalisierung sucht, sondern die Ambivalenzen von Macht, Moral und Mitgefühl herausarbeitet. Damit verleiht er dem politischen Dokumentarfilm eine zeitgenössische Relevanz, die ihn jenseits bloßer Faktensammlung zu einem Instrument der kritischen Selbstvergewisserung macht. Ergänzt wird diese Linie durch die Auftritte zweier Männer: Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, und Bashshar Haydar, ein libanesischer Philosoph, der die „dunkle Seite der europäischen Solidarität“ präzise benennt. Seine These, dass Empathie in Europa nach geographischer, kultureller oder religiöser Nähe bemessen wird, legt die Bruchlinien offen, die Solidarität in einen fragilen und ambivalenten Begriff verwandeln. Formal bewegt sich der Film zwischen analytischem Essay und beobachtender Dokumentation. Zwar bringt er wenig faktisch Neues, doch gerade die Verlangsamung, die Wiederholung und das insistierende In-den-Raum-Stellen der Fragen machen ihn zu einem eindringlichen Appell. Das Beispiel einer Familie in einem jordanischen Lager, die seit zwölf Jahren in provisorischen Behausungen ausharrt, verleiht dem Diskurs eine erschütternde Konkretion: Solidarität, so wird klar, darf nicht nur als kurzfristiger Reflex verstanden werden, sondern muss im Alltag und auf Dauer praktiziert werden.

SOLIDARITY ist damit kein Film, der sich durch Enthüllungen profiliert. Seine Bedeutung liegt vielmehr darin, dass er moralische Selbstverständlichkeiten hinterfragt und das Publikum zwingt, das eigene Verständnis von Solidarität zu überprüfen. Bernet gelingt eine ruhige, kluge und zugleich zutiefst politische Arbeit, die dem Zuschauer die bequeme Distanz entzieht. So ist SOLIDARITY weniger ein Bericht über humanitäre Krisen als eine Reflexion über die Spannungen zwischen Ideal und Realität, zwischen Anspruch und Praxis. Ein Film, der sich nicht in der Skandalisierung erschöpft, sondern einlädt, Verantwortung neu zu denken – und damit genau das leistet, was engagiertes Dokumentarkino ausmacht: Es macht das Unsichtbare sichtbar und zwingt uns, über die vermeintlichen Gewissheiten unserer Zeit neu nachzudenken.


SOLIDARITY

Start: 25.09.25 | FSK 12
R: David Bernet | Dokumentarfilm
Deutschland, Schweiz 2025 | Farbfilm


 


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