KINO | 23.07.2025

THE LIFE OF CHUCK

Wer ist Chuck? Die Welt geht unter, Kalifornien versinkt im Meer, das Internet bricht zusammen – doch in einer amerikanischen Kleinstadt herrscht vor allem Dankbarkeit gegenüber Charles „Chuck“ Krantz, einem gewöhnlichen Buchhalter, dessen Gesicht allen freundlich von Plakatwänden und aus dem Fernsehen zulächelt. Wer ist dieser Mann, den niemand wirklich zu kennen scheint?

von Richard-Heinrich Tarenz


© TOBIS Film GmbH.

Mike Flanagans Verfilmung von Stephen Kings Kurzgeschichte „The Life of Chuck“ ist ein außergewöhnliches Kinoerlebnis, das die Konventionen des Erzählens transzendiert und das Publikum auf eine zutiefst persönliche Reise einlädt. Dieser Film, der die Grenzen herkömmlicher Genres sprengt, entfaltet sich als eine nicht-chronologische Meditation über das Leben und seine flüchtigen, doch entscheidenden Momente. Mit einer herausragenden Besetzung und einer meisterhaften Regie gelingt es Flanagan, ein Werk zu schaffen, das gleichermaßen zugänglich und vielschichtig ist, ohne dabei jemals in Vereinfachung oder Sentimentalität abzugleiten. „The Life of Chuck“ bricht bewusst mit einer linearen Narration und präsentiert das Leben des titelgebenden Chuck Krantz, verkörpert in seinen erwachsenen Jahren von Tom Hiddleston, in drei „Sätzen“ – ähnlich den Bewegungen einer klassischen Sinfonie. Diese musikalische Metapher ist treffend, denn der Film webt seinen Zauber nicht nur durch seine Inhalte, sondern auch durch seinen Rhythmus, seine bewussten Auslassungen und die präzise gewählten Übergänge zwischen den Szenen. Diese unkonventionelle Struktur ermöglicht es dem Film, die fluiden und oft sprunghaften Eigenschaften der Erinnerung und der menschlichen Wahrnehmung des Lebens abzubilden. Der erste Satz entführt das Publikum in eine düstere Zukunft, in der die Zivilisation, wie wir sie kennen, zerfällt – angefangen beim Ausfall des Internets bis hin zum Kollaps der Energieversorgung und möglicherweise der gesamten Existenz. Inmitten dieses Chaos finden sich zwei ehemalige Ehepartner, Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor) und Felicia Gordon (Karen Gillan), die als „Krisenfreunde“ wieder zueinanderfinden. Eine besonders bewegende Sequenz zeigt Martys Reise zu Felicia, während der er ein tiefgründiges Gespräch mit seinem alten Freund Sam Yarborough (Carl Lumbly) führt, einem Bestattungsunternehmer, dessen Schicksal sich später als bedeutsam für Chucks Leben erweist. Eingestreute Nachrichtenberichte und die allgegenwärtige Bedrohung durch Umweltkatastrophen und den Verfall der Gesellschaft schaffen eine beklemmende Atmosphäre, in der jedoch immer wieder Bilder von Chuck auftauchen, begleitet von der rätselhaften Botschaft, ihm für „39 wunderbare Jahre“ zu danken.


© TOBIS Film GmbH.

Der mittlere Satz ist ein Paradebeispiel für die Eleganz und Präzision des Films. Er konzentriert sich auf einen einzigen, schillernden Moment: den erwachsenen Chuck, der auf offener Straße spontan in eine improvisierte Tanzroutine ausbricht und eine frisch verlassene Frau, Janice Halliday (Annalise Basso), dazu animiert, sich ihm anzuschließen. Die Chemie zwischen ihnen ist spürbar und fängt die Essenz jener flüchtigen Augenblicke ein, die das Potenzial haben, das Leben auf unvorhergesehene Weise zu verändern. Der Film ist durchdrungen von Szenen, in denen Charaktere in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen treffen, die zu tiefgreifender Zufriedenheit oder Traurigkeit führen. „The Life of Chuck“ ist eine indirekte Annäherung an die Idee, dass jeder Moment im Leben zählt und dass es von größter Bedeutung ist, im Augenblick präsent zu sein, da der Tod unerwartet zuschlagen kann. Doch der Film vermeidet eine didaktische Herangehensweise, die das Leben in simple Gleichungen zerlegt. Er ist weitaus geheimnisvoller und bietet dem Zuschauer, dank Flanagans geschickter Regie und Schnittkunst, viel Raum für eigene Interpretation. Diese Offenheit trägt maßgeblich zu seiner Wärme und umarmenden Qualität bei, trotz seiner formellen Experimentierfreudigkeit. Der dritte und letzte Satz beleuchtet Chucks Kindheit und Jugend, füllt eine kurz angedeutete Rückblende aus dem Mittelteil und führt seine Großeltern ein, gespielt von Mark Hamill und Mia Sara. Saras Darstellung der tanzbegeisterten Großmutter ist bezaubernd und verleiht dieser Figur eine unwiderstehliche Anmut und Weisheit. Hier werden Lebensentscheidungen getroffen, die das spätere Leben Chucks prägen, und der Film erzeugt einen „Zeit-Strudel-Effekt“, der an die retrospektive Betrachtung der eigenen Jugend erinnert: Momente, die als Kind ewig dauerten, vergehen im Erwachsenenalter wie im Flug. Jeder Darsteller in „The Life of Chuck“ hinterlässt einen starken Eindruck, selbst in nur einer einzigen Szene, wie Matthew Lillard, dessen bewegender Auftritt zutiefst berührt. Chiwetel Ejiofor verleiht Marty eine subtile Autorität und Empathie, während Karen Gillan mit Sensibilität und Wachsamkeit überzeugt. Tom Hiddleston, obwohl hauptsächlich im Mittelteil präsent und auf dem Filmplakat tanzend zu sehen, dient als eine Art Avatar des Films. Er verleiht seiner Darstellung des erwachsenen Chuck ein würdevolles Pathos, das umso wirkungsvoller ist, als es zurückhaltend daherkommt. „The Life of Chuck“ weist zahlreiche literarische und filmische Vorbilder auf, von „A Christmas Carol“ und „It’s a Wonderful Life“ bis hin zu „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Doch letztendlich ist dieser Film ein eigenständiges und einzigartiges Werk. Er ist eine verträumte Reise in das Bewusstsein eines Mannes, der auf sein Leben zurückblickt. Flanagan schafft ein vielschichtiges Werk, das unterschiedliche Interpretationen zulässt und das Publikum zum Träumen einlädt.


THE LIFE OF CHUCK

Start: 24.07.25 | FSK 12
R: Mike Flanagan | D: Tom Hiddleston, Mark Hamill, Chiwetel Ejiofor
USA 2024 | Tobis Film


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