Wer
ist Chuck? Die Welt geht unter, Kalifornien versinkt im Meer, das
Internet bricht zusammen – doch in einer amerikanischen Kleinstadt
herrscht vor allem Dankbarkeit gegenüber Charles „Chuck“
Krantz, einem gewöhnlichen Buchhalter, dessen Gesicht allen freundlich
von Plakatwänden und aus dem Fernsehen zulächelt. Wer ist
dieser Mann, den niemand wirklich zu kennen scheint?
Mike
Flanagans Verfilmung von Stephen Kings Kurzgeschichte „The Life
of Chuck“ ist ein außergewöhnliches Kinoerlebnis,
das die Konventionen des Erzählens transzendiert und das Publikum
auf eine zutiefst persönliche Reise einlädt. Dieser Film,
der die Grenzen herkömmlicher Genres sprengt, entfaltet sich
als eine nicht-chronologische Meditation über das Leben und seine
flüchtigen, doch entscheidenden Momente. Mit einer herausragenden
Besetzung und einer meisterhaften Regie gelingt es Flanagan, ein Werk
zu schaffen, das gleichermaßen zugänglich und vielschichtig
ist, ohne dabei jemals in Vereinfachung oder Sentimentalität
abzugleiten. „The Life of Chuck“ bricht bewusst mit einer
linearen Narration und präsentiert das Leben des titelgebenden
Chuck Krantz, verkörpert in seinen erwachsenen Jahren von Tom
Hiddleston, in drei „Sätzen“ – ähnlich
den Bewegungen einer klassischen Sinfonie. Diese musikalische Metapher
ist treffend, denn der Film webt seinen Zauber nicht nur durch seine
Inhalte, sondern auch durch seinen Rhythmus, seine bewussten Auslassungen
und die präzise gewählten Übergänge zwischen den
Szenen. Diese unkonventionelle Struktur ermöglicht es dem Film,
die fluiden und oft sprunghaften Eigenschaften der Erinnerung und
der menschlichen Wahrnehmung des Lebens abzubilden. Der erste Satz
entführt das Publikum in eine düstere Zukunft, in der die
Zivilisation, wie wir sie kennen, zerfällt – angefangen
beim Ausfall des Internets bis hin zum Kollaps der Energieversorgung
und möglicherweise der gesamten Existenz. Inmitten dieses Chaos
finden sich zwei ehemalige Ehepartner, Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor)
und Felicia Gordon (Karen Gillan), die als „Krisenfreunde“
wieder zueinanderfinden. Eine besonders bewegende Sequenz zeigt Martys
Reise zu Felicia, während der er ein tiefgründiges Gespräch
mit seinem alten Freund Sam Yarborough (Carl Lumbly) führt, einem
Bestattungsunternehmer, dessen Schicksal sich später als bedeutsam
für Chucks Leben erweist. Eingestreute Nachrichtenberichte und
die allgegenwärtige Bedrohung durch Umweltkatastrophen und den
Verfall der Gesellschaft schaffen eine beklemmende Atmosphäre,
in der jedoch immer wieder Bilder von Chuck auftauchen, begleitet
von der rätselhaften Botschaft, ihm für „39 wunderbare
Jahre“ zu danken.
Der
mittlere Satz ist ein Paradebeispiel für die Eleganz und Präzision
des Films. Er konzentriert sich auf einen einzigen, schillernden Moment:
den erwachsenen Chuck, der auf offener Straße spontan in eine
improvisierte Tanzroutine ausbricht und eine frisch verlassene Frau,
Janice Halliday (Annalise Basso), dazu animiert, sich ihm anzuschließen.
Die Chemie zwischen ihnen ist spürbar und fängt die Essenz
jener flüchtigen Augenblicke ein, die das Potenzial haben, das
Leben auf unvorhergesehene Weise zu verändern. Der Film ist durchdrungen
von Szenen, in denen Charaktere in Bruchteilen von Sekunden Entscheidungen
treffen, die zu tiefgreifender Zufriedenheit oder Traurigkeit führen.
„The Life of Chuck“ ist eine indirekte Annäherung
an die Idee, dass jeder Moment im Leben zählt und dass es von
größter Bedeutung ist, im Augenblick präsent zu sein,
da der Tod unerwartet zuschlagen kann. Doch der Film vermeidet eine
didaktische Herangehensweise, die das Leben in simple Gleichungen
zerlegt. Er ist weitaus geheimnisvoller und bietet dem Zuschauer,
dank Flanagans geschickter Regie und Schnittkunst, viel Raum für
eigene Interpretation. Diese Offenheit trägt maßgeblich
zu seiner Wärme und umarmenden Qualität bei, trotz seiner
formellen Experimentierfreudigkeit. Der dritte und letzte Satz beleuchtet
Chucks Kindheit und Jugend, füllt eine kurz angedeutete Rückblende
aus dem Mittelteil und führt seine Großeltern ein, gespielt
von Mark Hamill und Mia Sara. Saras Darstellung der tanzbegeisterten
Großmutter ist bezaubernd und verleiht dieser Figur eine unwiderstehliche
Anmut und Weisheit. Hier werden Lebensentscheidungen getroffen, die
das spätere Leben Chucks prägen, und der Film erzeugt einen
„Zeit-Strudel-Effekt“, der an die retrospektive Betrachtung
der eigenen Jugend erinnert: Momente, die als Kind ewig dauerten,
vergehen im Erwachsenenalter wie im Flug. Jeder Darsteller in „The
Life of Chuck“ hinterlässt einen starken Eindruck, selbst
in nur einer einzigen Szene, wie Matthew Lillard, dessen bewegender
Auftritt zutiefst berührt. Chiwetel Ejiofor verleiht Marty eine
subtile Autorität und Empathie, während Karen Gillan mit
Sensibilität und Wachsamkeit überzeugt. Tom Hiddleston,
obwohl hauptsächlich im Mittelteil präsent und auf dem Filmplakat
tanzend zu sehen, dient als eine Art Avatar des Films. Er verleiht
seiner Darstellung des erwachsenen Chuck ein würdevolles Pathos,
das umso wirkungsvoller ist, als es zurückhaltend daherkommt.
„The Life of Chuck“ weist zahlreiche literarische und
filmische Vorbilder auf, von „A Christmas Carol“ und „It’s
a Wonderful Life“ bis hin zu „Die fabelhafte Welt der
Amélie“. Doch letztendlich ist dieser Film ein eigenständiges
und einzigartiges Werk. Er ist eine verträumte Reise in das Bewusstsein
eines Mannes, der auf sein Leben zurückblickt. Flanagan schafft
ein vielschichtiges Werk, das unterschiedliche Interpretationen zulässt
und das Publikum zum Träumen einlädt.
THE LIFE OF CHUCK
Start:
24.07.25 | FSK 12
R: Mike Flanagan | D: Tom Hiddleston, Mark Hamill, Chiwetel Ejiofor
USA 2024 | Tobis Film