BELLETRISTIK
| 26.11.2025
2075
Wenn Schönheit zum Verbrechen wird
Ein
Zukunftsroman, der wie ein Brennglas auf unsere Gegenwart wirkt: „2075
– Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“ entwirft eine
Gesellschaft, in der der Kampf um Gerechtigkeit in ideologischen Eifer
umschlägt. Rainer Zitelmann verbindet kluge Satire mit bedrückender
Weitsicht. Ein Werk, das nicht nur unterhält, sondern Debatten
über Freiheit, Toleranz und gesellschaftliche Dynamiken neu entfacht.
von
Anna Winter

Das
Jahr 2075: Die radikale Gleichheitsbewegung „Movement for Optical
Justice“ (MOVE) wendet sich gegen die ungleiche Verteilung von
Schönheit. Attraktive Frauen genössen angeblich unverdiente
Privilegien im Berufs- wie im Privatleben. Darum: „Schönheit
ist ungerecht.“ Die Bewegung gewinnt immer mehr Einfluss. Stück
für Stück verwandelt sich die Demokratie in eine Gleichheitsdiktatur.
Es beginnt mit höheren Steuern und beruflichen Nachteilen für
Schöne. Aber schließlich setzt sich der radikale Flügel
der Bewegung durch: „über-schöne“ Frauen, bezeichnet
als „Privileged Beauty“, müssen sich einem chirurgischen
Eingriff („Optical Optimization Therapy“) unterziehen, der
sie weniger attraktiv macht. Das führt zu individuellen Dramen
und Verzweiflung, aber auch zu einer entschiedenen Gegenwehr. Die Studentin
Alexa, die Angst um ihre Schwester Alica hat und der Journalist Riven
leisten Widerstand gegen die Etablierung der Diktatur.
Rainer Zitelmanns Roman „2075
– Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“ entfaltet eine
Zukunftsvision, die weniger Science-Fiction als satirischer Spiegel
unserer Gegenwart ist: technologisch hochentwickelt, politisch jedoch
erstaunlich regressiv. Während Serviceroboter, autonome Mobilität
und Weltraumtourismus zum Alltag gehören, sind die gesellschaftlichen
Debatten so aufgeladen, moralisch überhitzt und tribalistisch wie
in den 2020er-Jahren – nur extremer, lauter und gefährlicher.
Zitelmann entwirft eine Dystopie, deren Unbehagen nicht in futuristischen
Bedrohungen wurzelt, sondern in der Wiederholung jener sozialen Dynamiken,
die wir längst kennen.
Im
Zentrum steht die Bewegung für „optische Gerechtigkeit“
– eine studentische Initiative, die auf scheinbar nachvollziehbare
Missstände aufmerksam macht, etwa auf die unverdienten Vorteile
attraktiver Menschen. Doch was als Sensibilisierung beginnt, radikalisiert
sich rasch, gewinnt sektenhafte Züge und zieht schließlich
einen politischen Apparat nach sich, der die Forderungen der Aktivisten
opportunistisch in Gesetzesform gießt. Der Roman zeigt, wie ein
ideologischer Impuls, gespeist von moralischem Eifer und gruppendynamischem
Überbietungszwang, in totalitäre Strukturen kippen kann –
besonders dann, wenn sich politische Institutionen der Logik solcher
Bewegungen beugen, statt ihr mit Selbstvertrauen und Argumentation zu
begegnen.
Zitelmanns
literarische Stärke liegt darin, diese Eskalation nicht als monströse
Übertreibung zu zeichnen, sondern als plausible Fortsetzung realer
sozialer Mechanismen. Die Parallelen zu Bewegungen der letzten Dekade
– ob BLM, radikale Gender-Aktivismen oder universitäre Cancel-Kulturen
– sind unübersehbar, jedoch nicht didaktisch aufdringlich,
sondern erzählerisch eingebettet. Der Roman arbeitet mit Ironie,
Zuspitzung und erzählerischer Dynamik und wahrt dabei jene literarische
Balance, die politischen Romanen oft fehlt: Er bleibt unterhaltsam und
zugänglich, ohne den intellektuellen Anspruch zu vernachlässigen.
Gerade
deshalb lohnt ein Blick auf die politische Dimension des Romans –
insbesondere auf die Frage, was geschieht, wenn gesellschaftliche Debatten
ihren offenen Charakter verlieren. Denn „2075“ erinnert
daran, dass Diskussionen in Demokratien nicht nur geführt, sondern
auch ausgehalten werden müssen. Und hier entfaltet der Roman seine
größte gesellschaftliche Relevanz.

Zitelmanns
Zukunftsszenario macht deutlich, wie fragil eine Demokratie wird, sobald
die Freiheit, unbequeme oder unpopuläre Positionen zu äußern,
erodiert. Die Meinungsfreiheit ist nicht bloß ein Abwehrrecht
gegen staatliche Eingriffe, sondern ein kultureller Möglichkeitsraum,
der erlaubt, Ideen zu entwickeln, Kritik zu üben und gesellschaftliche
Fehlentwicklungen früh zu erkennen. Ohne diese Freiheit erstarrt
die Demokratie, weil abweichende Stimmen nicht mehr als Bereicherung,
sondern als Bedrohung empfunden werden.
Doch
Meinungsfreiheit allein genügt nicht. Erst in Verbindung mit einer
kultivierten Diskussionskultur – geprägt von Zuhören,
argumentativer Auseinandersetzung und Respekt vor der Komplexität
sozialer Fragen – wird sie zu einem demokratischen Motor. Eine
solche Diskurskultur ermöglicht es Bürgerinnen und Bürgern,
politische Herausforderungen gemeinsam zu erkennen und konstruktive
Lösungen auszuhandeln. Sie ist der Gegenpol zu jenen digitalen
Empörungsmechanismen und sozialen Machtspielen, die Zitelmanns
Roman in übersteigerter Form darstellt.
Der
Roman mahnt damit implizit, dass Polarisierung, moralische Absolutheit
und soziale Ächtung Andersdenkender zu den gefährlichsten
Erosionen demokratischer Strukturen gehören. Demokratie scheitert
nicht an Vielfalt, sondern an der Angst vor Vielfalt. Und sie gedeiht
nur dort, wo Menschen frei sprechen dürfen – und frei voneinander
lernen können.
FAZIT
„2075
– Wenn Schönheit zum Verbrechen wird“ ist weniger Warnung
vor einer fernen Zukunft als Diagnose einer Gegenwart, die dabei ist,
ihre liberale DNA zu verspielen. Zitelmann gelingt es, politische Themen
literarisch zu verhandeln, ohne sie in agitatorische Vereinfachungen
zu pressen. Der Roman fordert dazu auf, wachsam gegenüber jenen
Strömungen zu bleiben, die im Namen von Gerechtigkeit neue Ungerechtigkeiten
schaffen – und daran zu erinnern, dass Freiheit und Diskursfähigkeit
nicht naturwüchsig sind, sondern verteidigt, kultiviert und täglich
neu eingeübt werden müssen. Damit liefert Zitelmann nicht
nur einen spannenden Zukunftsroman, sondern ein vielschichtiges literarisches
Stück politischer Kulturkritik, das weit über seine Fiktion
hinausweist.interessieren.
2075
Wenn Schönheit zum Verbrechen wird
Rainer
Zitelmann (Autor) | Langen Müller Verlag | 288 Seiten
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