DVD & BLU-RAY | 19.08.2020

Vom Gießen des Zitronenbaums

Der Künstler Elia kommt aus Nazareth und muss sich über Land und Leute doch sehr wundern. Schon der eigene Garten und seine Zitronenbäume sind vor den Begehrlichkeiten der Nachbarn nicht sicher. Bald bricht Elia auf, um anderswo heimisch zu werden und die seltsame Einsamkeit des kopfschüttelnden Beobachters hinter sich zu lassen.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Neue Visionen Filmverleih

Als die Nachbarn sich mal wieder an seinem Zitronenbaum bedient haben, ist für den Künstler Elia das Fass voll: Kurzerhand verlässt er seine Heimat Nazareth und macht sich in der großen weiten Welt auf die Suche nach einem neuen Zuhause. Er besucht genau die Länder, in denen Frauen nichts zu befürchten haben, die Kunst frei ist und es öffentliche Parks gibt, sodass niemand auf die Idee kommt, Zitronen zu stehlen. So bekommt er es in Paris und New York mit aggressiven Parkbesuchern, Touristen, die ferngesteuert sind, Polizisten auf Rollern und bewaffneten Spaziergängern zu tun. Wo er sich über die Absurditäten anfangs noch wundert, wird ihm das alles irgendwann doch zu befremdlich. So stellt er bald fest, dass nicht nur im heimischen Nazareth das Leben immer seltsamer wird, auch anderswo verändert sich die Welt und wird skurriler. Egal, wohin er auf der Welt kommt, irgendetwas erinnert ihn immer an Palästina – sei es die Polizei, die Grenzkontrollen oder grassierender Rassismus…

VOM GIESSEN DES ZITRONENBAUMS von Regisseur Elia Suleiman („Chronik eines Verschwindens“) glänzt mit jeder Menge Absurdem Humor und einem gnadenlosen sezierenden Blick auf die Welt, wo einem regelmäßig das Lachen im Halse stecken bleibt. Es ist ein staunender Blick voller Faszination für die Absurdität dieser Welt. Einer Welt, in welcher der Überwachungsstaat sich immer weiter ausbreitet und seine Tentakel in alle Bereiche unseres Lebens ausdehnt. Es ist diese ganz spezielle Sichtweise auf die Welt, welche die Filme von Elia Suleiman auszeichnen. Standen in seinen bisherigen Filmen stets die Absurdität des Nahostkonfliktes und die Hoffnungslosigkeit des palästinensischen Volkes im Mittelpunkt, erweitert er nun mit VOM GIESSEN DES ZITRONENBAUMS die Perspektive und begegnet einer Welt die zunehmend absurder und unverständlicher erscheint.


© Neue Visionen Filmverleih

Sein filmisches Alter Ego erinnert an die Filme von Buster Keaton und Jacques Tati. Er ist der Meister d
der leisen und subtilen Gesellschaftskritik, die den Zuschauer trifft wie ein Fausthieb. Die Welt ist zunehmend egoistisch und mit sich selbst beschäftigt und vergisst das Leid der Palästinenser. Aber es geht dem Regisseur nicht darum zu resignieren. Der Film ist eine Liebeserklärung an seine Heimat und zugleich ein Weckruf. Es sind diese kleinen Momente der Hoffnung in diesem Film, die zeigen sollen, dass auch in scheinbar verrückt gewordenen Welt Hoffnung besteht. Hoffnung auf eine gerechte und solidarische Welt. So etwa, wenn er nach einer surreal anmutenden Reise nach Paris in seiner Heimat lauter kleiner Zeichen für einen positiven Wandel sieht und erlebt. Da ist der Nachbar, der einen neuen Baum pflanzt. Da sind die jungen Menschen in seiner Nachbarschaft, die ausgelassen feiern und sich die Lebensfreude nicht zerstören lassen wollen. Auch in Zeiten wachsender Überwachung und Unterdrückung setzten die Menschen ein flammendes Zeichen der Hoffnung.

Und so macht dieser Film Mut, dass auch weltweit ein Wandel eintritt und die Menschen sich nicht kleinkriegen lassen. Freiheit kennt keine Grenzen. Sie ist unteilbar und tief in der DNS der Menschen verankert. Jeder Unterdrückung gebärt Gegenreaktionen. Keine Herrschaft ist für die Ewigkeit gemacht. Am Ende sind es die Menschen und ihr Freiheitswille, die siegen werden. Handwerklich lässt VOM GIESSEN DES ZITRONENBAUMS keine Fragen offen. Die routinierte Inszenierung unterstützt die Handlung und treibt sie voran in häufig aberwitzigen Bildern, die surrealer kaum sein könnten. Was ist Realität, was ist Traum? Diese Grenzen spielt in diesem Film keine Rolle. Selten war ein so subversiv und zugleich so still. Dieser Film erfordert etwas Geduld und ist sicher bisweilen für viele Menschen etwas sperrig. Aber die Geduld zahlt sich aus. Dieser Film ist eine gelungene Bestandsaufnahme einer Welt, die scheinbar „verrückt“ geworden ist, die den Zuschauer jedoch nicht deprimiert und fraglos zurücklässt, sondern mit der wachsenden Pflanze der Hoffnung beglückt.


VOM GIESSEN DES ZITRONENBAUMS

Katar, Deutschland, Kanada, Türkei, Palästinia 2019 | EuroVideo Medien GmbH | : 20. August 2020 (FSK 0)
R: Elia Suleiman | D: Elia Suleiman, Gael García Bernal, Tarik Kopty


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