KINO | 21.05.2025

ALLE LIEBEN TOUDA

Touda träumt davon, als Sheika – eine traditionelle marokkanische Sängerin – Lieder über Widerstand, Liebe und Emanzipation zu singen. Um sich diesen Traum zu erfüllen, muss sie jedoch einen harten Weg gehen: Sie verdient ihr Geld mit Auftritten in Bars ihrer kleinen Provinzstadt, wo sie den lüsternen Blicken der Männer ausgesetzt ist, während sie gleichzeitig für ihren gehörlosen Sohn sorgt.

von Richard-Heinrich Tarenz


© IMMERGUTEFILME

Nabil Ayouchs neuer Film "Alle lieben Touda", der am 29. Mai in die Kinos kommt, ist eine kraftvolle und bewegende Hommage an die Widerstandskraft der Frauen in Marokko und ein leidenschaftliches Plädoyer für ihre Selbstbestimmung. Der Film zentriert sich auf die Figur der Touda, einer Sheikha, und nutzt ihre Geschichte, um tief in die komplexe Realität marokkanischer Frauen einzutauchen, die zwischen Tradition und Moderne, zwischen Unterdrückung und dem Drang nach Freiheit navigieren. Aïta, die traditionelle marokkanische Bluesmusik, die von Frauen gesungen wird, dient im Film als kraftvolles Symbol des Widerstands. Seit dem späten 19. Jahrhundert ist diese Musik in der Geschichte des Widerstands verwurzelt und artikuliert in poetischer Form den Protest gegen Tyrannei, Kolonialherrschaft und religiöse Zwänge. Die Sheikhas, die diese Lieder singen, sind Rebellinnen und Aktivistinnen, die durch ihre Musik, ihre Kleidung und ihren Tanz nichts beschönigen oder verbergen. Sie sind Wahrheitsverkünderinnen ihrer Gemeinschaften und Hüterinnen eines wertvollen mündlichen Erbes.

Ayouch zeigt eindringlich, wie das Ansehen dieser unabhängigen Frauen mit der Hinwendung des Landes zu konservativeren Werten sank. Sie wurden zunehmend als Symbole sexueller Promiskuität verunglimpft, insbesondere als sie in die Metropolen zogen und sich in den Rotlichtvierteln als Cabaret-Attraktionen etablierten. Der Film scheut sich nicht, die ambivalente Haltung der Gesellschaft gegenüber diesen Frauen darzustellen – eine Mischung aus Bewunderung und Verachtung, die die Protagonistin auf Schritt und Tritt begleitet. Touda ist eine außergewöhnliche Frau in ihrer ländlichen Provinz. Sie ist eine emanzipierte, alleinerziehende Mutter, die raucht und trinkt, Bierflaschen mit den Zähnen öffnet und eine Affäre mit einem verheirateten Polizisten hat, in der sie die Zügel in der Hand hält. Sie ist Analphabetin, lernt aber Liedtexte mit Hilfe von Sprachnachrichten einer Freundin. Sie übt unermüdlich, um eines Tages genug Geld zu verdienen, damit ihr taubstummer Sohn Yassine eine Gehörlosenschule in Casablanca besuchen kann, wo sie sich auch Anerkennung für ihre Kunst erhofft.


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Nisrin Erradi verkörpert die Touda mit einer Intensität, die fesselt. Sie verleiht ihrer Figur eine schmerzhafte Schönheit und Sinnlichkeit, Beharrlichkeit und Verletzlichkeit. Ayouch fängt mit Hilfe der oft dokumentarisch anmutenden Bilder von Virginie Surdej das pulsierende Nachtleben von Casablanca ebenso brillant ein wie jede Nuance in Erradis Gesicht, jedes Stirnrunzeln und Zucken ihrer Mundwinkel.In der Großstadt angekommen, stößt Touda bei jedem mutigen Schritt in Richtung Selbstbehauptung auf Ablehnung und Misogynie. Ihr extravagantes Auftreten und ihr selbstbewusstes Wesen verschaffen ihr zwar einen Job, doch sie wird weiterhin wie eine Stripperin behandelt und sogar von weiblichen Konkurrentinnen beleidigt. Nur ein älterer Violinist erkennt ihren Wert als Sheikha und hilft ihr, ihr Rhythmusgefühl zu verbessern. Ayouch verzichtet auf überflüssige Dialoge und lässt die Musik für sich sprechen. In einer Schlüsselszene singt Touda gegen den Ruf des Muezzins an, der durch das Fenster ihres Hotelzimmers dringt. Sie wiederholt besessen ihre Zeile („Alles wird gut“), bis sie in der Melodie ihre eigene Erlösung findet. Dieser Akt der Selbstermächtigung durch Gesang ist ein zentrales Motiv des Films.

Der Film kulminiert in einer spektakulären, achtminütigen Einstellung, in der Touda das höchste Gebäude der Stadt und eine elegante Rooftop-Bar betritt, wo die Sterne zum Greifen nah sind. Ihr sensationeller Auftritt ist ein Triumph, der jedoch von den ambivalenten Reaktionen des Publikums begleitet wird. In diesem Moment erkennt Touda, dass ihre Freiheit nicht von der Akzeptanz der Gesellschaft abhängt, sondern von ihrem Glauben an sich selbst und dem Stolz und der Würde aller Sheikhas, die sie in sich trägt. "Alle lieben Touda" ist ein zutiefst feministischer Film, der die Widerstandskraft von Frauen feiert und die patriarchalen Strukturen anprangert, die sie unterdrücken. Ayouch gelingt es, ein komplexes und nuanciertes Porträt einer starken Frau zu zeichnen, die für ihre Träume und ihre Selbstbestimmung kämpft. Der Film ist ein wichtiger Beitrag zum zeitgenössischen Kino und ein kraftvolles Zeugnis für die anhaltende Bedeutung des Widerstands in all seinen Formen.


ALLE LIEBEN TOUDA

Start: 29.05.25 | FSK 12
R: Nabil Ayouch | D: Nisrin Erradi, Joud Chamihy, Jalila Tlemsi
Frankreich, Marokko, Belgien, Dänemark, Niederlande 2024 | IMMERGUTEFILME



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