Die
eigensinnige Yuri lebt mit ihrem Vater auf einer abgelegenen Insel
namens Carpathia. Von klein auf schärft man ihr ein, sich vor
den geheimnisvollen Tierwesen der Insel, den Ochis, zu fürchten.
Doch als Yuri ein einsames Baby-Ochi findet, kommen ihr Zweifel an
der Gefährlichkeit der Wesen. Sie lässt ihr Zuhause hinter
sich, um das Ochi zurück zu seiner Familie zu bringen, und erlebt
das größte Abenteuer ihres Lebens.
Isaiah
Saxons „Die Legende von Ochi“, der jetzt in Kinos startet,
evoziert in seiner Prämisse unweigerlich Assoziationen zu Steven
Spielbergs ikonischem „E.T. – Der Außerirdische“,
ohne jedoch dessen potenziellen Kultstatus zu beanspruchen. Während
es dem Werk möglicherweise an vollkommener thematischer Originalität
mangelt, brilliert es durch eine bemerkenswerte kreative Detailfreude
und eine sensible Inszenierung von filmischer Magie, die eine subtile
Balance zwischen Familienfreundlichkeit und der Andeutung von Bedrohlichem
wahrt. Die für viele A24-Produktionen charakteristische ästhetische
Verschrobenheit und Eigenwilligkeit prägen das Werk auf angenehme
Weise. Die Heldenreise des jungen Yuri und seines flauschigen Begleiters
Ochi zelebriert das Befremdliche und Anachronistische. Die narrative
Welt ist von einer eigentümlichen Vermischung inkompatibler Zeitebenen
durchzogen. So koexistieren archaische Pferdewagen auf den Feldern
mit der abrupten Präsenz moderner Automobile, wodurch ein subtiler
Bruch in der vermeintlich unberührten Wildnis entsteht.
Diese
Anachronismen laden den Zuschauer dazu ein, über die persistierenden
Gewaltspiralen, Abgrenzungen und Denkweisen der Menschheit inmitten
des Fortschritts zu reflektieren. Die nächtliche Ochi-Jagd, angeführt
von Willem Dafoes patriarchalischem Charakter, der archaische Waffen
wie Speer und Axt anstelle von Gewehren führt, unterstreicht
diese eigentümliche Zeitlosigkeit. Diese bewusst aus der Gegenwart
fallenden Eindrücke dienen als subtile Methode, tiefgreifende
Fragen nach der menschlichen Natur und ihren persistenten Konflikten
zu evozieren. Obwohl der Film in seiner didaktischen Zuspitzung auf
eine klare Moral durchaus Konventionen des Kinder- und Familienfilms
bedient und stellenweise auf rührselige Momente setzt, um Emotionen
zu evozieren, offenbart er eine tiefere Ebene der Sensibilität.
Die Odyssee durch vielfältige Naturlandschaften berührt
den Zuschauer bereits durch zarte Gesten der Grenzüberschreitung,
weit bevor die vermeintliche Notwendigkeit tränenreicher Effekte
eintritt.
Im
Kern thematisiert der Film weniger die oberflächliche Beschwörung
familiärer Bande als vielmehr die subtile Annäherung und
die Überwindung von vermeintlichen Gegensätzen. Saxons Werk
positioniert sich dezidiert gegen Militarismus und eine binäre
Weltsicht von Gut und Böse. Die grotesken und verstörenden
Bilder von Willem Dafoes kleiner Armee von Kindersoldaten, die frühzeitig
auf Waffendienst und strikte Feindbilder indoktriniert wurden, gewinnen
angesichts gegenwärtiger Aufrüstungsdebatten und geopolitischer
Konflikte eine beunruhigende Relevanz. Eingebettet in diese Kritik
ist eine tiefgründige Befragung der menschlichen Rolle innerhalb
der Natur. Der Film thematisiert die noch junge Erkenntnis des Menschen
über seine Vernetzung mit der Umwelt und die vielfältigen
Kommunikationsformen zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung. Die Suche
nach einer gemeinsamen Sprache, oft verbunden mit Anstrengung und
Schmerz, steht im Zentrum.
Eine
symbolträchtige Bisswunde lässt den Film kurzzeitig in den
Bereich des Body Horror gleiten, indem der Körper zur Schnittstelle
und zum Medium der Annäherung an den vermeintlichen Feind wird,
bis die Erkenntnis der geringen tatsächlichen Unterschiede reift.
Saxons Kunst liegt in der kongenialen Verbindung dieser Ideen mit
ihrer ästhetischen Umsetzung. Der Film sucht die Nähe zur
taktilen Erkundung der Welt und übersetzt diese in enorm sinnliche
Bilder. Die verborgenen Texturen von Haut, Fell, Holz, Moos und Gestein
sprechen auf der großen Leinwand eine eigene, eindringliche
Sprache. „Die Legende von Ochi“ könnte mühelos
als Stummfilm funktionieren, da die visuellen Botschaften die verbliebenen
Dialoge weitgehend überflüssig machen. Die virtuose Kombination
digitaler und praktischer Effekte trägt maßgeblich zur
immersiven Wirkung bei. Wuchtige Bilder nebelverhangener Wälder
und Gebirge treffen auf malerische, künstlich gestaltete Elemente,
die an die mythisch aufgeladenen Naturräume von „The Green
Knight“ erinnern. Die zum Leben erweckten Ochis, primär
durch Puppenspiel realisiert, interagieren auf verblüffend realistische
Weise mit ihren menschlichen Gegenparts.
DIE LEGENDE VON OCHI
Start:
01.05.25 | FSK 6
R: Isaiah Saxon | D: Helena Zengel, Willem Dafoe, Emily Watson
USA 2024 | Plaion Pictures