KINO | 30.04.2025

DIE LEGENDE VON OCHI

Die eigensinnige Yuri lebt mit ihrem Vater auf einer abgelegenen Insel namens Carpathia. Von klein auf schärft man ihr ein, sich vor den geheimnisvollen Tierwesen der Insel, den Ochis, zu fürchten. Doch als Yuri ein einsames Baby-Ochi findet, kommen ihr Zweifel an der Gefährlichkeit der Wesen. Sie lässt ihr Zuhause hinter sich, um das Ochi zurück zu seiner Familie zu bringen, und erlebt das größte Abenteuer ihres Lebens.

von Richard-Heinrich Tarenz


© PLAION PICTURES

Isaiah Saxons „Die Legende von Ochi“, der jetzt in Kinos startet, evoziert in seiner Prämisse unweigerlich Assoziationen zu Steven Spielbergs ikonischem „E.T. – Der Außerirdische“, ohne jedoch dessen potenziellen Kultstatus zu beanspruchen. Während es dem Werk möglicherweise an vollkommener thematischer Originalität mangelt, brilliert es durch eine bemerkenswerte kreative Detailfreude und eine sensible Inszenierung von filmischer Magie, die eine subtile Balance zwischen Familienfreundlichkeit und der Andeutung von Bedrohlichem wahrt. Die für viele A24-Produktionen charakteristische ästhetische Verschrobenheit und Eigenwilligkeit prägen das Werk auf angenehme Weise. Die Heldenreise des jungen Yuri und seines flauschigen Begleiters Ochi zelebriert das Befremdliche und Anachronistische. Die narrative Welt ist von einer eigentümlichen Vermischung inkompatibler Zeitebenen durchzogen. So koexistieren archaische Pferdewagen auf den Feldern mit der abrupten Präsenz moderner Automobile, wodurch ein subtiler Bruch in der vermeintlich unberührten Wildnis entsteht.

Diese Anachronismen laden den Zuschauer dazu ein, über die persistierenden Gewaltspiralen, Abgrenzungen und Denkweisen der Menschheit inmitten des Fortschritts zu reflektieren. Die nächtliche Ochi-Jagd, angeführt von Willem Dafoes patriarchalischem Charakter, der archaische Waffen wie Speer und Axt anstelle von Gewehren führt, unterstreicht diese eigentümliche Zeitlosigkeit. Diese bewusst aus der Gegenwart fallenden Eindrücke dienen als subtile Methode, tiefgreifende Fragen nach der menschlichen Natur und ihren persistenten Konflikten zu evozieren. Obwohl der Film in seiner didaktischen Zuspitzung auf eine klare Moral durchaus Konventionen des Kinder- und Familienfilms bedient und stellenweise auf rührselige Momente setzt, um Emotionen zu evozieren, offenbart er eine tiefere Ebene der Sensibilität. Die Odyssee durch vielfältige Naturlandschaften berührt den Zuschauer bereits durch zarte Gesten der Grenzüberschreitung, weit bevor die vermeintliche Notwendigkeit tränenreicher Effekte eintritt.


© PLAION PICTURES

Im Kern thematisiert der Film weniger die oberflächliche Beschwörung familiärer Bande als vielmehr die subtile Annäherung und die Überwindung von vermeintlichen Gegensätzen. Saxons Werk positioniert sich dezidiert gegen Militarismus und eine binäre Weltsicht von Gut und Böse. Die grotesken und verstörenden Bilder von Willem Dafoes kleiner Armee von Kindersoldaten, die frühzeitig auf Waffendienst und strikte Feindbilder indoktriniert wurden, gewinnen angesichts gegenwärtiger Aufrüstungsdebatten und geopolitischer Konflikte eine beunruhigende Relevanz. Eingebettet in diese Kritik ist eine tiefgründige Befragung der menschlichen Rolle innerhalb der Natur. Der Film thematisiert die noch junge Erkenntnis des Menschen über seine Vernetzung mit der Umwelt und die vielfältigen Kommunikationsformen zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung. Die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, oft verbunden mit Anstrengung und Schmerz, steht im Zentrum.

Eine symbolträchtige Bisswunde lässt den Film kurzzeitig in den Bereich des Body Horror gleiten, indem der Körper zur Schnittstelle und zum Medium der Annäherung an den vermeintlichen Feind wird, bis die Erkenntnis der geringen tatsächlichen Unterschiede reift. Saxons Kunst liegt in der kongenialen Verbindung dieser Ideen mit ihrer ästhetischen Umsetzung. Der Film sucht die Nähe zur taktilen Erkundung der Welt und übersetzt diese in enorm sinnliche Bilder. Die verborgenen Texturen von Haut, Fell, Holz, Moos und Gestein sprechen auf der großen Leinwand eine eigene, eindringliche Sprache. „Die Legende von Ochi“ könnte mühelos als Stummfilm funktionieren, da die visuellen Botschaften die verbliebenen Dialoge weitgehend überflüssig machen. Die virtuose Kombination digitaler und praktischer Effekte trägt maßgeblich zur immersiven Wirkung bei. Wuchtige Bilder nebelverhangener Wälder und Gebirge treffen auf malerische, künstlich gestaltete Elemente, die an die mythisch aufgeladenen Naturräume von „The Green Knight“ erinnern. Die zum Leben erweckten Ochis, primär durch Puppenspiel realisiert, interagieren auf verblüffend realistische Weise mit ihren menschlichen Gegenparts.


DIE LEGENDE VON OCHI

Start: 01.05.25 | FSK 6
R: Isaiah Saxon | D: Helena Zengel, Willem Dafoe, Emily Watson
USA 2024 | Plaion Pictures



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