Isabells
Leben gerät durcheinander, als sie erkennt, dass ihre betagten
Eltern nicht mehr alleine zurechtkommen. Während sie verzweifelt
nach Pflegepersonal sucht, pendelt sie zwischen Berlin und dem Wochenendhaus
ihrer Eltern, das einst von ihrem Vater im modernistischen Stil erbaut
wurde. In dieser angespannten Situation trifft Isabell immer wieder
auf die rätselhafte Anja, eine alleinerziehende Mutter, die mit
ihren eigenen Herausforderungen zu kämpfen hat.
Am
19. Juni 2025 kommt mit „Zikaden“ ein Werk in die deutschen
Kinos, das auf leisen Sohlen Fragen von Verantwortung, Mutterschaft
und weiblicher Selbstermächtigung stellt – ohne dabei jemals
in lauten Feminismus zu verfallen. Der dritte Spielfilm von Regisseurin
Ina Weisse ist kein Manifest, sondern eine poetisch-melancholische
Meditation über weibliche Identität in Zeiten struktureller
Überforderung. In ihrer radikalen Langsamkeit und konzentrierten
Bildsprache verweigert sich „Zikaden“ dem schnellen Urteil
– und bietet stattdessen ein narratives Terrain, das gerade
in seiner Ambivalenz feministische Lesarten herausfordert. Im Zentrum
steht Isabell (Nina Hoss), eine kultivierte, scheinbar etablierte
Frau mittleren Alters, die zwischen ihrem städtischen Leben in
Berlin und der Pflege ihrer Eltern in einem modernistischen, aber
zunehmend entseelten Wochenendhaus pendelt. Die Krankheit des Vaters
wirkt wie ein Riss im Fundament ihrer Selbstgewissheit. Parallel dazu
begegnet sie Anja (Saskia Rosendahl), einer jungen Mutter, deren Existenz
von materieller Unsicherheit und einem unaufhaltsamen Überlebensmodus
geprägt ist. Zwischen diesen beiden Frauen entspinnt sich eine
fragile Beziehung – weniger im Sinne eines klassischen Dramas
als vielmehr als ein Verschieben von Grenzen, von Nähe und Selbstwahrnehmung.
Aus einer feministischen Perspektive ist „Zikaden“ vor
allem deshalb bemerkenswert, weil es einen selten gezeigten Aspekt
weiblicher Biografie ins Zentrum rückt: die Unauflösbarkeit
von Fürsorge und Selbstverlust. Isabells Figur ist keine Heroine.
Sie ist erschöpft, ambivalent, flüchtig. Gerade hierin liegt
ihre Stärke als filmische Projektionsfläche für eine
Vielzahl weiblicher Erfahrungen, die im patriarchal geprägten
Kanon des Kinos allzu oft entweder romantisiert oder übergangen
werden. Die Sorgearbeit, die Isabell leistet – ob für ihren
Vater oder für ihren Mann Philippe (Vincent Macaigne) –
wird nicht als aufopferungsvoll verklärt, sondern als eine still
erosive Kraft dargestellt. In der Beziehung zu Anja öffnet sich
ein Resonanzraum zwischen zwei Weiblichkeiten: Die eine sozial abgesichert,
aber innerlich zerrissen; die andere
ökonomisch marginalisiert, aber im Kontakt mit ihrer emotionalen
Direktheit.
Diese
Begegnung konterkariert klassische Mutterrollenbilder – und
erschließt einen Raum, in dem Empathie nicht länger an
familiäre oder gesellschaftliche Zuschreibungen gebunden ist.
Der Titel *Zikaden* verweist auf ein Naturphänomen, das sich
im Film auf mehreren Ebenen durchzieht. Die Zikade, ein Insekt, das
Jahre unter der Erde verbringt, bevor es mit rauschendem Klang in
die Welt tritt, wird zur Metapher für das Aufbrechen unterdrückter
Identität. Auch Isabell scheint aus einer langen Phase der Anpassung
zu erwachen – nicht durch Rebellion, sondern durch ein stilles
Erkennen der eigenen Desorientierung. Ina Weisse nutzt die Mittel
des Kinos mit großer Präzision: Die Kamera von Judith Kaufmann
bleibt nahe an den Gesichtern, den Körpern, den leeren Räumen.
Es sind diese Leerstellen – architektonisch wie emotional –,
die als weibliche Erfahrungsräume gedeutet werden können:
Zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Fürsorge und
Flucht, zwischen Abhängigkeit und dem leisen Drang nach Selbstdefinition.
Die Musik von Annette Focks unterstreicht diese Spannung durch fragile
Klangbilder, die nie dominieren, sondern begleiten – wie ein
innerer Pulsschlag. „Zikaden“ fügt sich in eine jüngere
Generation deutschsprachiger Filme ein, die sich trauen, das Unspektakuläre
zur eigentlichen Bühne des Lebens zu machen – man denke
an die Arbeiten von Angela Schanelec oder Maren Ade. Doch Weisse geht
noch einen Schritt weiter: Sie verzichtet auf die dramaturgische Rettung
ihrer Figuren. Weder Isabell noch Anja finden eine Auflösung
im klassischen Sinne. Stattdessen bleibt ein schwebender Zustand zurück
– ein „Noch-nicht“, ein „Nicht-mehr“.
Gerade dies erscheint als radikale Geste in einem Kino, das weibliche
Figuren oft durch Sinn und Opferläuterung „abschließt“.
In ihrer offenen Form erschafft „Zikaden“ somit einen
Raum, in dem Zuschauerinnen wie Zuschauer sich der Ambivalenz weiblicher
Lebensrealitäten stellen müssen. Der Film ist kein Kommentar,
sondern ein Spiegel. Und wie jeder ehrliche Spiegel, zeigt er auch
das Unbequeme.
ZIKADEN
Start:
19.06.25 | FSK 6
R: Ina Weisse | D: Nina Hoss, Saskia Rosendahl, Vincent Macaigne
Deutschland, Frankreich 2025 | DCM Filmdistribution