KINO | 18.06.2025

ZIKADEN

Isabells Leben gerät durcheinander, als sie erkennt, dass ihre betagten Eltern nicht mehr alleine zurechtkommen. Während sie verzweifelt nach Pflegepersonal sucht, pendelt sie zwischen Berlin und dem Wochenendhaus ihrer Eltern, das einst von ihrem Vater im modernistischen Stil erbaut wurde. In dieser angespannten Situation trifft Isabell immer wieder auf die rätselhafte Anja, eine alleinerziehende Mutter, die mit ihren eigenen Herausforderungen zu kämpfen hat.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Judith Kaufmann Lupa Film

Am 19. Juni 2025 kommt mit „Zikaden“ ein Werk in die deutschen Kinos, das auf leisen Sohlen Fragen von Verantwortung, Mutterschaft und weiblicher Selbstermächtigung stellt – ohne dabei jemals in lauten Feminismus zu verfallen. Der dritte Spielfilm von Regisseurin Ina Weisse ist kein Manifest, sondern eine poetisch-melancholische Meditation über weibliche Identität in Zeiten struktureller Überforderung. In ihrer radikalen Langsamkeit und konzentrierten Bildsprache verweigert sich „Zikaden“ dem schnellen Urteil – und bietet stattdessen ein narratives Terrain, das gerade in seiner Ambivalenz feministische Lesarten herausfordert. Im Zentrum steht Isabell (Nina Hoss), eine kultivierte, scheinbar etablierte Frau mittleren Alters, die zwischen ihrem städtischen Leben in Berlin und der Pflege ihrer Eltern in einem modernistischen, aber zunehmend entseelten Wochenendhaus pendelt. Die Krankheit des Vaters wirkt wie ein Riss im Fundament ihrer Selbstgewissheit. Parallel dazu begegnet sie Anja (Saskia Rosendahl), einer jungen Mutter, deren Existenz von materieller Unsicherheit und einem unaufhaltsamen Überlebensmodus geprägt ist. Zwischen diesen beiden Frauen entspinnt sich eine fragile Beziehung – weniger im Sinne eines klassischen Dramas als vielmehr als ein Verschieben von Grenzen, von Nähe und Selbstwahrnehmung. Aus einer feministischen Perspektive ist „Zikaden“ vor allem deshalb bemerkenswert, weil es einen selten gezeigten Aspekt weiblicher Biografie ins Zentrum rückt: die Unauflösbarkeit von Fürsorge und Selbstverlust. Isabells Figur ist keine Heroine. Sie ist erschöpft, ambivalent, flüchtig. Gerade hierin liegt ihre Stärke als filmische Projektionsfläche für eine Vielzahl weiblicher Erfahrungen, die im patriarchal geprägten Kanon des Kinos allzu oft entweder romantisiert oder übergangen werden. Die Sorgearbeit, die Isabell leistet – ob für ihren Vater oder für ihren Mann Philippe (Vincent Macaigne) – wird nicht als aufopferungsvoll verklärt, sondern als eine still erosive Kraft dargestellt. In der Beziehung zu Anja öffnet sich ein Resonanzraum zwischen zwei Weiblichkeiten: Die eine sozial abgesichert, aber innerlich zerrissen; die andere ökonomisch marginalisiert, aber im Kontakt mit ihrer emotionalen Direktheit.


© Judith Kaufmann Lupa Film

Diese Begegnung konterkariert klassische Mutterrollenbilder – und erschließt einen Raum, in dem Empathie nicht länger an familiäre oder gesellschaftliche Zuschreibungen gebunden ist. Der Titel *Zikaden* verweist auf ein Naturphänomen, das sich im Film auf mehreren Ebenen durchzieht. Die Zikade, ein Insekt, das Jahre unter der Erde verbringt, bevor es mit rauschendem Klang in die Welt tritt, wird zur Metapher für das Aufbrechen unterdrückter Identität. Auch Isabell scheint aus einer langen Phase der Anpassung zu erwachen – nicht durch Rebellion, sondern durch ein stilles Erkennen der eigenen Desorientierung. Ina Weisse nutzt die Mittel des Kinos mit großer Präzision: Die Kamera von Judith Kaufmann bleibt nahe an den Gesichtern, den Körpern, den leeren Räumen. Es sind diese Leerstellen – architektonisch wie emotional –, die als weibliche Erfahrungsräume gedeutet werden können: Zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Fürsorge und Flucht, zwischen Abhängigkeit und dem leisen Drang nach Selbstdefinition. Die Musik von Annette Focks unterstreicht diese Spannung durch fragile Klangbilder, die nie dominieren, sondern begleiten – wie ein innerer Pulsschlag. „Zikaden“ fügt sich in eine jüngere Generation deutschsprachiger Filme ein, die sich trauen, das Unspektakuläre zur eigentlichen Bühne des Lebens zu machen – man denke an die Arbeiten von Angela Schanelec oder Maren Ade. Doch Weisse geht noch einen Schritt weiter: Sie verzichtet auf die dramaturgische Rettung ihrer Figuren. Weder Isabell noch Anja finden eine Auflösung im klassischen Sinne. Stattdessen bleibt ein schwebender Zustand zurück – ein „Noch-nicht“, ein „Nicht-mehr“. Gerade dies erscheint als radikale Geste in einem Kino, das weibliche Figuren oft durch Sinn und Opferläuterung „abschließt“. In ihrer offenen Form erschafft „Zikaden“ somit einen Raum, in dem Zuschauerinnen wie Zuschauer sich der Ambivalenz weiblicher Lebensrealitäten stellen müssen. Der Film ist kein Kommentar, sondern ein Spiegel. Und wie jeder ehrliche Spiegel, zeigt er auch das Unbequeme.


ZIKADEN

Start: 19.06.25 | FSK 6
R: Ina Weisse | D: Nina Hoss, Saskia Rosendahl, Vincent Macaigne
Deutschland, Frankreich 2025 | DCM Filmdistribution


AGB | IMPRESSUM