
SACHBUCH
| 11.06.2025
Die
Macht der Geografie:
Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären
lässt
In
zehn Kapiteln zeigt der Politik-Experte Tim Marshall, wie die Geografie
die militärischen, wirtschaftlichen und strategischen Ziele der
zentralen Weltmächte beeinflusst hat und es bis heute tut. Eine
brillante und unverzichtbare Analyse für alle, die die Welt besser
verstehen wollen.
von
Steffie Sallieri

In
einer Ära, in der politische Kurzsichtigkeit oft über langfristige
strategische Analyse triumphiert, erscheint Tim Marshalls Werk „Die
Macht der Geografie: Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären
lässt“ wie ein kartographisches Korrektiv: ein eindringlicher
Versuch, das Weltgeschehen nicht als chaotisches Produkt menschlicher
Willkür, sondern als notwendige Konsequenz geographischer Prägungen
zu lesen. Die Neuerscheinung vom Mai 2025 — eine überarbeitete
und erweiterte Fassung seines bereits 2015 publizierten Bestsellers
— schärft den geopolitischen Blick des Lesers und bietet
zugleich ein wohltuend nüchternes Gegengewicht zum rauschhaften
Strom tagesaktueller Nachrichten. Marshall bewegt sich in seinem Buch
auf dem schmalen Grat zwischen geographischem Determinismus und politischer
Kontextualisierung. Sein zentrales Argument bleibt dabei konstant: Die
natürlichen Gegebenheiten eines Landes — Gebirge, Flüsse,
Meere, Klima und Ressourcen — bestimmen maßgeblich seine
politischen Möglichkeiten und strategischen Zwänge. Staatenlenker
agieren nicht im luftleeren Raum, sondern innerhalb eines durch Topographie,
Nachbarschaftsverhältnisse und Zugang zu globalen Handelswegen
vorgezeichneten Handlungskorridors. In zehn Kapiteln — jeweils
einem geopolitischen Raum gewidmet — entfaltet der Autor eine
Weltkarte strategischer Interessen: Russland als eurasischer Koloss,
eingeschlossen von Eis und Feinden, das China der neuen Seidenstraße,
Indien als aufstrebender Subkontinent, Afrika als geopolitisch „vergessener“
Kontinent, und Europa, zerrissen zwischen Integration und Nationalismus.
Besonders hervorzuheben ist die analytische Tiefe, mit der Marshall
die geopolitische Matrix des Nahen Ostens sowie die marine Ausdehnung
der USA in den pazifischen Raum darstellt — Kapitel, die durch
ihre Aktualität im Lichte jüngster Konflikte an Brisanz gewinnen.
Marshalls besondere Leistung liegt nicht in der Originalität einzelner
geopolitischer Einsichten — viele seiner Thesen sind in der Fachwelt
seit Langem bekannt —, sondern in der Art, wie er diese zu einem
anschaulichen, strukturierten Gesamtbild verdichtet. Die Karten, auf
denen er seine Argumente entfaltet, sind mehr als bloße Illustrationen.
Sie fungieren als epistemologische Werkzeuge: In ihnen wird Geographie
zur Sprache gebracht, zur Lesbarkeit verdichtet. Besonders eindrucksvoll
ist die Passage über die Ukraine, die nicht nur als gegenwärtiger
Kriegsschauplatz, sondern als historisches Transitland zwischen Ost
und West analysiert wird — ein Land, das in seiner topographischen
Offenheit das Dilemma der eurasischen Peripherie in sich trägt.

Auch
die zunehmende Rivalität im Südchinesischen Meer wird nicht
als bloßes Kräftemessen gedeutet, sondern als geostrategisch
zwangsläufiger Konflikt zwischen einer aufstrebenden Landmacht
und einer globalen Seemacht. Was Marshall auszeichnet, ist seine Fähigkeit,
komplexe geopolitische Zusammenhänge mit sprachlicher Klarheit
und stilistischer Disziplin zu vermitteln. Obwohl sein Buch auch von
einem breiten Laienpublikum rezipiert werden kann, verfällt es
nie in Simplifizierung. Seine Sprache bleibt präzise, gelegentlich
pointiert, stets getragen von einem analytischen Gestus, der auf belehrende
Arroganz verzichtet. Die deutsche Übersetzung von Birgit Brandau
und Lutz-W. Wolff bewahrt den nüchternen, aber eindringlichen Duktus
des Originals. Allerdings wird man nicht umhinkommen, dem Werk eine
gewisse thematische Asymmetrie vorzuwerfen: Während einige Kapitel
durch Aktualisierungen und analytische Tiefe glänzen (z. B.
zu China, Russland und dem Nahen Osten), bleiben andere — etwa
zu Lateinamerika — vergleichsweise skizzenhaft. Zudem drängt
sich bisweilen die Frage auf, ob Marshall nicht doch zu sehr dem Paradigma
des geographischen Zwangsdenkens verhaftet bleibt und sozioökonomische,
ideologische oder kulturelle Dynamiken zu wenig gewichtet.
„Die
Macht der Geografie“ ist kein enzyklopädisches Werk im engeren
Sinne, sondern ein politisch-strategisches Lesebuch — ein Versuch,
den Leser mit einer geopolitischen Grundgrammatik vertraut zu machen.
In einer Zeit der geopolitischen Konvulsionen — vom Ukraine-Krieg
über Chinas Aufstieg bis hin zur multipolaren Weltordnung des 21.
Jahrhunderts — leistet Marshalls Buch einen wertvollen Beitrag
zur geopolitischen Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten.
DIE
MACHT DER GEOGRAFIE:
Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt
Tim
Marshall (Autor) | dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG | Gebundene
Ausgabe: 480 Seiten
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