
SACHBUCH
| 11.06.2025
HYBRIS
Verfall, Vertuschung und Joe Bidens verhängnisvolle
Entscheidung
Zwei
der angesehensten Journalisten Amerikas liefern eine schonungslose und
dramatische Abrechnung mit einer der schicksalhaftesten Entscheidungen
der amerikanischen Politikgeschichte: Joe Bidens Kandidatur zur Wiederwahl
– trotz Anzeichen seines körperlichen und kognitiven Verfalls,
trotz verzweifelter Bemühungen, das Ausmaß seines Zustands
zu verbergen.
von
Steffie Sallieri

In
den turbulenten Umbrüchen des amerikanischen politischen Jahres
2024, das retrospektiv bereits als tektonischer Moment der US-Geschichte
gilt, markiert das Sachbuch „Hybris“ von Jake Tapper und
Alex Thompson mehr als nur ein journalistisches Zeitzeugnis. Es ist
ein Dokument politischer Erosion, ein Protokoll strategischen Selbstbetrugs
– und, vielleicht am erschütterndsten, ein intellektuelles
Sittengemälde einer politischen Elite, die sich weigert, dem biologischen
Imperativ menschlicher Begrenztheit ins Auge zu blicken. „Hybris“
(engl. Original Sin) ist keine bloße Analyse des Niedergangs von
Präsident Joe Biden. Vielmehr liegt ihm eine tiefere – fast
tragödienschwangere – These zugrunde: Dass das Festhalten
an der Macht trotz offensichtlicher persönlicher Überforderung
nicht nur ein individuelles Versagen darstellt, sondern Ausdruck einer
strukturellen Selbstüberschätzung innerhalb des politischen
Apparates sei. Die Autoren entwerfen das Bild eines Präsidenten,
der seinen Zenit längst überschritten hatte, und dessen kognitiver
Abbau nicht nur sichtbar, sondern von jenen, die es am dringendsten
hätten erkennen müssen – Familie, Berater, Medien –
wissentlich verharmlost wurde. Jake Tapper, selbst langjähriger
politischer Korrespondent und bis dahin nicht unkritischer, aber loyaler
Begleiter der Demokratischen Partei, wählt mit seinem Koautor Alex
Thompson eine schonungslose Offenheit. Basierend auf über 200 Interviews
mit hochrangigen Quellen innerhalb des Weißen Hauses, des Kongresses
und der demokratischen Wahlkampfmaschinerie, dokumentieren sie minutiös
eine Dynamik der Selbsttäuschung: Biden habe Warnsignale ignoriert,
sein engstes Umfeld habe dies nicht nur hingenommen, sondern aktiv vernebelt
– aus Angst vor einem internen Machtvakuum und dem politischen
Chaos, das ein Rückzug ausgelöst hätte. Die Autoren konstruieren
– bewusst oder unbewusst – eine tragische Heldenfigur: einen
Mann, der aus einer Mischung aus Pflichtgefühl, Eitelkeit und Verdrängung
heraus den Schritt wagte, den er nicht hätte wagen dürfen.
Der Titel Hybris ist hier keineswegs metaphorisch überhöht,
sondern verweist auf das klassische griechische Verständnis: den
Übermut gegenüber dem Schicksal, der das Unheil provoziert.

Biden,
so Tapper und Thompson, habe in jenem Moment, da er sich entschloss,
2024 erneut anzutreten, nicht nur seine eigene politische Bilanz gefährdet,
sondern auch das moralische Fundament seiner Partei unterhöhlt.
Die Frage, ob er – trotz der offensichtlichen körperlichen
wie kognitiven Anzeichen – überhaupt fähig war, seine
Entscheidung vollständig zu überblicken, bleibt bewusst unbeantwortet.
Gerade dadurch wird sie zum schmerzlichen Subtext. Was „Hybris“
so bedeutsam macht, ist nicht allein die Beschreibung eines individuellen
Verfalls, sondern die aufgedeckte institutionelle Komplizenschaft: Kabinettsmitglieder,
Berater, Kongressführer und Parteifunktionäre erscheinen als
stille Mitwisser. Die mediale Begleitmusik – bis spät in
den Wahlkampf hinein von beschwichtigenden Narrativen geprägt –
gerät retrospektiv zum Schweigekartell. Der Skandal liegt nicht
nur im Zustand des Präsidenten, sondern im systemischen Versagen,
diesen Zustand rechtzeitig zu problematisieren. Diese Enthüllungen
werfen einen langen Schatten auf das Selbstverständnis amerikanischer
Demokratie. Wenn weder die Checks and Balances der US-Verfassung noch
das journalistische Korrektiv fähig oder willens sind, fundamentale
Fehlentwicklungen öffentlich zu benennen, was bleibt dann von der
Idee aufgeklärter Volkssouveränität? Die Innenpolitik
der USA steht durch Hybris vor einer fundamentalen Vertrauenskrise.
Nicht etwa, weil ein alternder Präsident strauchelt – das
wäre menschlich –, sondern weil ein ganzes System es unterließ,
daraus Konsequenzen zu ziehen. Tapper und Thompson gelingt das Kunststück,
investigativen Journalismus mit erzählerischer Stringenz zu verbinden.
Ihre Sprache bleibt präzise, distanziert, analytisch – und
dennoch ist zwischen den Zeilen eine tiefe moralische Verstörung
spürbar. Es ist nicht Wut, sondern Ernüchterung, die dieses
Buch durchzieht: die Einsicht, dass ein ganzes politisches Lager bereit
war, für den Erhalt institutioneller Stabilität das Risiko
totalen Kontrollverlustes zu tolerieren. Der Stil wechselt zwischen
dokumentarischem Protokoll und reflektierender Analyse, nie effektheischend,
nie boulevardesk. Gerade dadurch entfaltet das Buch seine beklemmende
Wirkung: Als Leser begegnet man keiner Skandalstory, sondern einer leise
aufsteigenden Tragödie – chronologisch, unausweichlich, verstörend.
Dieses
Buch ist mehr als eine Abrechnung mit Joe Biden – es ist eine
Abrechnung mit einer politischen Klasse, die sich im Schatten des Präsidenten
eingerichtet hatte und dessen Schwäche zum eigenen Opportunismus
nutzte. Es ist ein Werk, das gelesen werden muss – nicht nur von
Journalisten, Politikern oder Historikern, sondern von jedem, der an
der Idee demokratischer Rechenschaft interessiert ist. Denn in der Geschichte
von „Hybris“ liegt die warnende Botschaft: Demokratie scheitert
nicht am Feind von außen, sondern an der Feigheit derer, die es
besser wissen und dennoch schweigen.
HYBRIS:
Verfall, Vertuschung und Joe Bidens verhängnisvolle Entscheidung
Jake
Tapper & Alex Thompson (Autoren) | dtv Verlagsgesellschaft mbH &
Co. KG | Taschenbuch: 400 Seiten
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