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SACHBUCH | 03.02.2021

ABSCHOTTUNG

In seinem neuen Buch „Abschottung - Die neue Macht der Mauern“ beschäftigt sich Tim Marshall („Die Macht der Geographie“) mit dem weltweit beobachtbaren Phänomen der Abschottung. Diese Abschottung kann sich in Mauern manifestieren, aber auch in einer inneren Abschottung gegen neue Ideen und fremde Einflüsse.

von Richard-Heinrich Tarenz


© Adrian Wells

Mauern haben Konjunktur, von der US-amerikanischen Mauer an der Grenze zu Mexiko bis hin zu der Firewall, mit der China sich im Internet gegen den Westen abschottet. Europa errichtet Zäune gegen Flüchtlinge, Mauern und Grenzanlagen ziehen sich durch den Nahen Osten, den Sudan, Korea, Indien. Ein neues Zeitalter des Isolationismus und Nationalismus ist angebrochen. Mindestens 65 Länder der Welt, mehr als je zuvor, haben stark befestigte Grenzen. Tim Marshall macht eine Weltreise entlang dieser Mauern in der Landschaft und im Kopf, erforscht ihre Geschichte und befasst sich mit den Ursachen dafür. Eine fesselnde und scharfsinnige Analyse, wie Abschottung immer mehr die Gegenwart prägt…

In seinem neuen Buch „Abschottung - Die neue Macht der Mauern“ beschäftigt sich Tim Marshall („Die Macht der Geographie“) mit dem weltweit beobachtbaren Phänomen der Abschottung. Diese Abschottung kann sich in Mauern manifestieren, aber auch in einer inneren Abschottung gegen neue Ideen und fremde Einflüsse. Tim Marshall ist ein anerkannter Experte und Außenpolitik und Politik-Redakteur bei Sky News, einem 24-Stunden-Nachrichtenkanal mit Sitz in Großbritannien. In seiner Karriere hat er unzählige Länder bereist und dabei aus zahlreichen Krisen- und Kriegsgebieten berichtet, darunter aus Afghanistan, dem Irak, dem Libanon und aus Israel. Marshall gilt als profunder Kenner der US-Politik hat vor seiner Zeit für Sky News für die BBC als Korrespondent für Europa und den Nahen Osten tätig. Mehrere Bücher zeugen von seiner Fähigkeit komplexe Sachverhalte kompetent für ein breites Publikum herunterzubrechen, ohne auf Qualität zu verzichten. So gesehen, ist Tim Marshall der richtige Mann, um sich eines kontroversen Themas anzunehmen, dass die Geschicke der Menschen weltweit noch für viele Jahrzehnte bestimmen wird.

Wenn es um die Themen Abschottung und Mauern geht, werden viele Deutsche sofort an jene Mauer denken, die zwischen 1961 und 1989 Berlin, Deutschland und Europa geteilt hat. In jenen Tagen war der Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen dem „Westen“, angeführt von den USA und dem „Osten“, angeführt von UdSSR, in Deutschland und speziell in Berlin. Hier konnte aus dem Kalten Krieg jederzeit ein die Menschheit vernichtender globaler Nuklearkrieg entstehen und die menschliche Zivilisation für immer im atomaren Feuer verglühen lassen. Als 1989 die Mauer endlich durch eine friedliche Revolution fiel, war die Hoffnung groß, dass ein neues goldenes Zeitalter hereinbrechen würde. Doch das war ein Trugschluss. Im Jahre 2021 bestimmen Mauern und der Wunsch nach Abschottung die Politik vieler Staaten. Aber diese Tendenz der Abschottung geht viel weiter. Sie reicht hinein bis das alltägliche Zusammenleben der Menschen. Abschottung muss sich sich nicht zwangsläufig in materiellen Mauern manifestieren. Es gibt auch die innere Abschottung entlang ethnischer Grenzen und entlang ideologischer Grenzen. Die Gesellschaften zerfallen immer mehr in „Meinungsblasen“, die nach Prinzip „Hier wir – dort die Anderen“ agieren.

Tim Marshall beschreibt in seinem Buch in ruhigen und kompetenten Worten die unterschiedlichen Formen der Abschottung weltweit und nimmt die Leserinnen und Lesern mit auf eine faszinierende Weltreise. Angefangen bei der VR China, führt diese Reise in die USA, in den Nahen Osten, auf den indischen Subkontinent und nach Europa. Dabei informiert der Autor geschickt nicht nur über das Thema Abschottung, sondern informiert zudem über die Geschichte der Länder und Regionen. Insgesamt weist dieses Buch einen hohen Informationsgehalt auf. Man wird mit schmerzhaften Tatsachen konfrontiert, wie den insgesamt sich über 759 km hinziehenden mörderischen Sperranlagen, die Israel in Palästina errichtet hat und die erst unlängst vom Internationalen Gerichtshof als völkerrechtswidrig eingestuft wurden. Oder aber die Mauer, welche den griechischen und den türkischen Teil Zypern teilt. Tim Marshall macht mit seinem Buch schmerzhaft bewusst, dass es viele Orte auf dieser Welt gibt, die zwar aus den täglichen Nachrichten verschwunden sind, die deren Schmerz und Ungerechtigkeit gen Himmel schreien.

Aber das Buch geht noch weiter. Es entführt die Leserinnen und Lesern an Orte des Schreckens und der Abschottung, von denen er bislang kaum gehört hat. Etwa an die Grenze zwischen Indien und Bangladesch, wo ein 4.000 km langer Grenzzaun steht, der schwer befestigt ist. Oder aber der „marokkanische Wall“, der inmitten der Sahara auf über 2.700 km Länge die Westsahara und Marokko trennt. Und die Beispiele ließen sich an dieser Stelle noch lange fortsetzen. Das spricht für die Genauigkeit dieses Buches und der Detailstreue des Autors. Dieses Buch ist jedoch keine schnöde Aufzählung von Mauern, Befestigungsanlagen und Grenzposten. Vielmehr geht der Autor den Ursachen für diese Form der Abschottung nach, die so alt ist wie die Menschheit selbst. Menschen formieren sich seit der Dämmerung der Menschheit in Gruppen, Sippen und Clans. Das diente dem Schutz der Gemeinschaft und dem Aufbau einer Gruppenidentität. Dadurch können Kontakte zu anderen Gruppen entstehen und eine vernetzte Zusammenarbeit ist die Folge. Grenzen und damit einhergehende Schutzmaßnahmen, seien sie wirtschaftlich oder sicherheitspolitisch begründet, sind das souveräne Recht einer jeden Gemeinschaft. Ein Staat der seine Grenzen aufgibt, gibt sich selber auf. Doch das Problem ist wesentlich komplexer.

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Kontrolle über die eigenen Staatsgrenzen und einer Abschottung zu anderen Staaten. Diese Art der Abschottung, das können wir in diesem Buch erfahren anhand von Beispielen, sind ungelöste territoriale Probleme und Streitigkeiten. Man muss nur einen Blick nach Afrika wenden. Dort wurden von den Kolonialmächten, angeführt von Großbritannien und Frankreich, willkürliche Grenzen mit dem Lineal gezogen, die den Interessen der Eroberer genügten, aber keinerlei Rücksicht auf gewachsene Strukturen, Sprachzugehörigkeiten, Stämme und Ethnien nahmen. Die Folgen nach der Entkolonialisierung sind bis zum heutigen Tag blutig zu spüren – ungelöste Grenzkonflikte zwischen den Staaten. Ungelöste Konflikte, die zu Abschottung und zur Errichtung von Mauern führen.

Die Lage im Nahen Osten ist ähnlich. Dort zogen Frankreich und Großbritannien willkürliche Grenzen zwischen ihren Mandatsgebieten und schufen ein Chaos, dass sich bis in die heutige Zeit in blutigen Konflikten manifestiert. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es für diese schier unlösbaren Konflikte zwischen den Staaten? Was bedeutet Massenimmigration und die daraus resultierenden Abschottungstendenzen? Gibt es Wege aus dem ideologischen „Blasendenken“? Dieses Buch gibt Erklärungsmuster vor und deutet Lösungsweg aus der Krise an. Einfach Lösungen sind dabei jedoch nicht zu erwarten. Jede Veränderung macht den Menschen Angst und doch ist Wandel die einzige Konstante der menschlichen Geschichte. „Abschottung“ von Tim Marshall ist eine analytisch brillante Beschreibung einer Welt im Wandel. Einer Welt, die noch nicht entschieden hat, wohin die Reise geht. Abschottung beruht auf Misstrauen. Vertrauen aufzubauen ist jedoch nicht einfach und sehr langwierig. Wissen ist ein erster Schritt auf dem Weg Vertrauen aufzubauen.


Tim Marshall – ABSCHOTTUNG - Die neue Macht der Mauern

dtv Verlagsgesellschaft | Taschenbuch: 352 Seiten | 22. Januar 2021


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