SACHBUCH
| 04.11.2020
Das
kleine Buch der Selbstverwüstung
Nie
zuvor gab es so viele Bücher, Kurse und YouTube-Videos, die uns
erklären wollen, wie wir eine bessere Version unseres Selbst werden:
Gesünder, schlanker, erfolgreicher und immer schön entspannt.
Zugleich leiden immer mehr Menschen an Depressionen, Angststörungen
oder Burn-Out. Könnte es sein, dass der ganze Selbstoptimierungs-Quatsch
daran schuld ist? Martina Donner hat jedenfalls die Schnauze voll davon
– und ruft uns alle auf zu mehr Selbstverwüstung. In ihrem
gut gelaunten Plädoyer für ein wildes und ungezähmtes
Leben rät sie: Öfter mal alle Fünfe grade sein lassen,
morgens im Bett liegen bleiben, die Nacht durchfeiern oder mit der besten
Freundin eine Flasche Rotwein killen.
von
Eve Pohl
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Man
könnte Marian Donners Plädoyer zur Selbstverwüstung auch
mit „LEBE“ überschreiben, angelehnt an die Kapitelüberschriften,
die einen auffordern zu trinken, stinken, tanzen, bluten und brennen.
Tatsächlich steckt aber viel mehr dahinter anstatt nur eine Liebe
zum Hedonismus und zur individuellen Verwirklichung. Schon auf den ersten
Seiten in der Einführung kommt man direkt mit seinem Hintern auf
den harten Boden der Realität zurück. Denn Werbeversprechen
und die „Industrie der Träume und Ziele“ schaffen es,
uns immer das Gefühl zu geben, dass nicht die Welt um uns, sondern
wir selbst das Problem sind. Jeder einzelne, soll bloß eine bessere
Version seiner selbst werden. Ursprünglich eine kluge Werbestrategie,
die einem vorgaukelt, dass man genau das durch den Kauf von Produkten
werden könne. Die markigen Sprüche im Stil von „Impossible
is Nothing.“ (Adidas) zeigen aber, wie sich die Gesellschaft verändert
hat. Wir selber sind diejenigen, die uns ausbremsen und natürlich
können wir es dann auch ändern, uns verändern; mit Selbsthilfebüchern,
Anleitungen, Podcasts, usw. Warum man das aber manchmal gar nicht sollte
und welche Wege es noch links und rechts davon gibt, darum geht es Marian
Donner.
Die
Autorin Marian Donner, die in den Niederlanden auch als Kolumnistin
und Essayistin tätig ist, teilt das Buch in verschiedene „sprechende“
Kategorien ein, die sich auch im Untertitel wiederfinden. Schließlich
heißt es da: Warum wir mehr stinken, trinken, bluten, brennen
und tanzen sollten. Tatsächlich könnte man auf die Idee kommen,
dass man schon vorher weiß, was sich hinter den einzelnen Aussagen
verbirgt. Aber man sollte sich nicht vom ersten Gedanken täuschen
lassen, es steckt viel mehr dahinter als nur das Offensichtliche! Sie
sieht vielmehr hinter die Dinge und erkennt die Gedankenprozesse hinter
den Handlungen, die einzelne Menschen tun oder wie die Gesellschaft
im Ganzen sich entwickelt. Ein gutes Beispiel dafür stellt das
Kapitel „BLUTE“ dar. Mit viel Klarheit und mit dem ein oder
anderen Schmankerl aus der Popkultur, schafft Donner eine messerscharfe
Analyse der modernen Leistungsgesellschaft in der jeder einzelne Mensch
bis zum Ende „funktionieren“ muss. Wer unter Stress, Leistungsdruck
oder Erschöpfung leidet, befindet sich außerhalb des Systems
und hat sich gewissermaßen ausgeklinkt. Die Welt möchte uns
beibringen, das jeder und jede die beste Version seiner selbst sein
soll, sich perfekt ins System des postmodernen Kapitalismus eingliedern
und wird so Glück und Zufriedenheit finden.
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Aber
so wiederum ticken Menschen eben nicht. Alle brauchen Auszeiten und
manchmal auch einfach eine durchzechte Nacht mit Freunden, ganz ohne
dass etwas dabei herauskommen muss. Diese Handlungen allerdings beflügeln
nicht das System von Angebot und Nachfrage oder streben dem Ziel entgegen,
das wir uns selber als Gefängnis erschaffen haben. Vielleicht spricht
dieses Kapitel auch gerade deswegen so zu einem, weil es die Schönheit
der Andersdenkenden, der Kunst und der Dinge, die man eigentlich nicht
braucht, wertschätzt. Am Ende jedenfalls kann sich Zeit für
sich selber nehmen, im Park sitzen und Menschen beobachten, Meditation
und all die anderen Dinge nicht die Lösung sein, um genug Kraft
zu haben, unsere „Lifegoals“ zu erreichen oder wie ein gut
geölter Motor im System zu funktionieren. Die Autorin plädiert
dafür, sich endlich vom Narrativ des Erfolgs zu lösen. Wenn
man irgendwas nicht schafft, macht das einen Menschen weder wertvoller
noch weniger wertvoll. Es ist total egal. Vielmehr sollten wir alle
mehr „bluten“. Das ist natürlich metaphorisch gemeint.
Es geht darum, solidarisch zu handeln und füreinander einzustehen,
denn: „Bluten heißt füreinander bluten. Das Blut eines
anderen als dein eigenes zu erkennen. Und dann gemeinsam die Blutung
zu stillen.“ In den anderen Kapiteln nimmt sie sich Selbstoptimierung,
Selbstdarstellung, der perfekten Liebe und dem Drang seine Zeit gut
zu investieren an. Ironischerweise sind viele Begriffe und Redewendungen
unserer Sprache so durchsetzt von wirtschaftlichen Vokabeln, dass einem
fast schwindelig werden könnte. Warum wird eine Beziehung oft wie
ein Tauschhandel betrachtet? Nur weil einer der Partner viel gegeben
oder investiert hat, gibt es keine Garantie und erst recht kein Recht
auf eine entsprechende Gegenleistung. Warum müssen Freundschaften
oder Paare irgendwelche „Goals“ erreichen? Man sollte eigentlich
meinen, dass es nicht nötig ist, am Ende des Quartals oder Jahres
irgendwelche Bilanzen zu prüfen.
Marian
Donners Buch ist auf jeden Fall kurzweilig und schafft es sehr gut,
mit jeder Menge guter Beispiele aus verschiedenen Lebensbereichen aufzuzeigen,
wo Dinge gründlich schieflaufen. Manchmal springt sie allerdings
recht plötzlich von einem Thema zum nächsten, sodass man sich
schon konzentrieren oder einzelne Seiten nochmal lesen muss, um ihr
folgen zu können. An manchen Stellen spitzt die Autorin deutlich
zu. Sicherlich treffen die Aussagen in diesem Buch nicht auf alle Menschen
auf der Welt zu. Wie überall gibt es schwarz und weiß, aber
eben auch Grautöne. Dennoch ist es ein kleines, aber feines Buch,
das sehr lesenswert ist!
Marian Donner
– Das kleine Buch der Selbstverwüstung
Ullstein
Taschenbuch | Gebundene Ausgabe: 160 Seiten | 12. Oktober
2020
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