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BELLETRISTIK | 09.09.2020

Das Lichtenstein

1913 - Berlin ist eine der bedeutendsten Modemetropolen weltweit. Im Herzen der Stadt liegt das Warenhaus Lichtenstein, in dem unterschiedliche Menschen aufeinander treffen: Hedi taucht als Ladenmädchen in diese Welt ein und erlebt hautnah, wie Modekollektionen entstehen. Sie freundet sich mit Näherin Thea an, die Hedis Sinn für Farbe und Stoffe entdeckt. Jacob Lichtenstein hat große Pläne, wie er sein Haus gegen die übermächtige Konkurrenz in die Zukunft führen will. Doch sein jüngerer Bruder Ludwig versucht, diese Pläne zu durchkreuzen. Dann geht das Lichtenstein in Flammen auf und die Existenz aller steht auf dem Spiel.

von Eve Pohl


© pixajopari auf Pixabay

Marlene Averbeck hat bereits zuvor unter ihrem Pseudonym Liv Winterberg einige sehr erfolgreiche historische Romane veröffentlicht. Mit „Vom anderen Ende der Welt“ wurde ihr Debütroman direkt zum Bestseller und konnte sich so als Autorin für historische Romane etablieren. Den ersten Band aus der Trilogie rund um das Modehaus Lichtenstein erscheint nun erstmals unter ihrem eigentlichen Namen.

Und was für ein Roman das ist! Denn das Thema und die Zeit in der die Geschichte spielt, sind von vielen Umbrüchen gezeichnet. Bereits am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich Berlin zu einem internationalen Zentrum der Mode. Genau genommen zum Zentrum für Konfektionsmode, die auch Berliner Konfektion genannt wurde. Im Gegensatz zu Paris, wo der Fokus auf Haute Couture lag, wurde in Berlin Kleidung „von der Stange“ hergestellt. Das Potential dieses Wirtschaftszweigs wurde erkannt und von findigen Kaufleuten, die häufig Juden waren, umgesetzt, sodass die Kleidung international exportiert werden konnte.

Diesem Umstand wird im Roman eine wichtige Rolle eingeräumt. Stellvertretend für viele andere Geschäfte, sind es hier die beiden Brüder Jacob und Ludwig Lichtenstein, die immer wieder Auseinandersetzungen darüber haben, wie die Zukunft des Kaufhauses aussehen sollte. Während Jacob der Meinung ist, man müsse sich von Paris inspirieren lassen und Kleidung fertigen, die phantasievoll und farbenfroh aber dennoch bezahlbar für alle Frauen ist, möchte Ludwig sich lieber gediegener Mode zuwenden. Gedeckte Farben und zurückhaltende Schnitte sind das, was er für den Stil der Berliner Frau hält. Immer wieder geraten sie aneinander, haben doch beide eine bedeutende Position im Betrieb inne.


© Lutz Holzapfel auf Pixabay

Als das Kaufhaus abbrennt, müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden, allerdings spielt diese Episode inmitten von verwirrenden Zeiten. Denn der erste Weltkrieg bricht aus und viele der Männer werden für das Heer verpflichtet, sodass die Verantwortung in den Händen der weiblichen Angestellten liegt. Egal ob es die Aufgaben des Konfektionärs (in etwa zu vergleichen mit einem Designer heute) sind oder die des Hausmeisters. In dieser Zeit sieht sich schließlich auch Hedis Mutter, die nach dem frühen Tod ihres Mannes nicht genau weiß, was ihre Aufgabe ist, beziehungsweise wo sie hingehört, mit ganz neuen Ansichten konfrontiert. Eigentlich war ihr immer wichtig, was ihre Freundinnen, was die Nachbarn oder sonstige Bekannte denken. Dann allerdings wendet sie sich Gertrud Bäumer zu und setzt sich für das Frauenwahlrecht ein. Hoffentlich eine Geschichte, die im zweiten Band der Reihe „Das Lichtenstein – Modehaus der Wünsche“ weitererzählt wird. Insgesamt hat man in diesem Roman eine gute Mischung aus verschiedenen Themen.

Das Lichtenstein, welches im Gegensatz zu den anderen Kaufhäusern, die im Buch beschrieben werden, nicht in der Wirklichkeit existierte, wird zur Offenbarung verschiedener Schicksale genutzt. Alle Figuren haben eine bestimmte Bedeutung sowohl füreinander, aber auch als Prototypen der damaligen Gesellschaft. Es gibt die Tochter des jüdischen Bankiers, die sich nicht traut ihrem Vater den Angebeteten vorzustellen, der kein Jude ist. Aber auch der jüdische Kaufmann, der windige Versicherungsvertreter und die Näherin aus einfachen Verhältnissen kommen vor. Dann gibt es noch Ella Winkler, die schnell zur gefeierten Berliner Schauspielerin avanciert. Mit den beiden Freundinnen Thea Stübner und Hedi Markwardt sind zwei arbeitende Frauen, die sich erträumen ihre Talente nutzen zu können und nicht lediglich als Ehefrauen zu enden. So findet jeder eine Figur, die für ihn besonders interessant ist. Auch wenn die Kapitel sehr kurz sind und immer aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden, kann man die Motivationen und geheimen Wünsche gut nachvollziehen. Tatsächlich ist es aber teilweise etwas anstrengend nach einigen Seiten - häufig zwischen zwei und vier – den Erzählstrang aus einer anderen Sicht nachzuvollziehen. Auch würde man sich manchmal freuen, wenn man noch etwas mehr aus den Perspektiven einzelner Figuren, beispielsweise Thea, erfahren würde.

Auch wenn die Bedeutung Berlins als Modestandort mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus ein jähes Ende fand, ist es schön, dass sich in Berlin inzwischen wieder eine junge Modeszene etabliert hat, die diese geschichtsreiche Stadt immer wieder als Quell der Inspiration nutzen. Auch wenn die Zeit der großen Modehäuser vorbei sein mag, kann aus einer solchen Tradition auch wieder etwas Neues erwachsen. Man darf gespannt sein, wie es rund um Hedi, Hannes Hallenberg, Jacob Lichtenstein, Thea und die Theaterschauspielerin Ella weitergeht. Immerhin stolpern die Figuren mitten in die Goldenen Zwanziger in Berlin herein, eine interessante Epoche.


Marlene Averbeck – Das Lichtenstein

dtv Verlagsgesellschaft | Broschiert: 480 Seiten | 21. August 2020


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