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BELLETRISTIK | 03.02.2021

DAS VERSCHWINDEN DER ERDE

In diesem Roman beschreibt die Autorin das Leben verschiedener Frauen auf Kamtschatka, einer russischen Halbinsel im fernen Nordostasien. Sie verknüpft dabei auf meisterhafte Art und Weise die Schicksale sehr unterschiedlicher Frauen, ob Jung oder Alt, ob russischer oder indigener Abstammung.

von Eve Pohl


© Nina Subin

Auf der sibirischen Halbinsel Kamtschatka verschwinden die zwei jungen Schwestern Aljona und Sofija spurlos. Auch nach Wochen verlaufen die Ermittlungen im Nichts. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Stadt in Aufruhr. Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt uns der Roman in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane…

In den Sommerferien sind die beiden Schwestern Aljona und Sofija in ihrer Heimatstadt unterwegs. Die ganzen Ferien über, haben sie die Umgebung durchstreift und ihre Zeit genossen. An diesem Augusttag erzählt Aljona ihrer jüngeren Schwester die Geschichte von dem Verschwinden einer Stadt. Julia Philipps entführt die Leser in die fast unwirklich wirkende Gegend der Halbinsel Kamtschatka. Ein interessanter Flecken Erde mit einer bewegten Geschichte. Erst seit den neunziger Jahren, nach dem Untergang der Sowjetunion, ist die Insel für Touristen zugänglich, nachdem der Status als militärisches Sperrgebiet aufgehoben wurde.

In diesem Roman beschreibt die Autorin das Leben verschiedener Frauen auf Kamtschatka, einer russischen Halbinsel im fernen Nordostasien. Sie verknüpft dabei auf meisterhafte Art und Weise die Schicksale sehr unterschiedlicher Frauen, ob Jung oder Alt, ob russischer oder indigener Abstammung. Diese Frauen fristen ein karges Dasein inmitten einer rauen und erbarmungslosen Natur. Sie leben in einer archaischen Gesellschaft, die stark von Männern dominiert und geprägt wird. Frauen spielen in diesen gesellschaftlichen Strukturen keine Rolle und sind abhängig von Männern. Sie sind gefangen in einem scheinbar endlosen Kreislauf der Fremdbestimmung gefangen ohne Aussicht auf Erlösung und Selbstbestimmung.

Das Buch ist inhaltlich in 13 Kapitel gegliedert. Diese stehen für 13 Monate, in denen sich die Handlung Bahn bricht. Die erzählerische Perspektive ändert sich in jedem Kapitel, und zwar indem es aus Sicht der Frauen gestaltet ist. Deswegen erfährt man über die Männer der Gesellschaft nicht besonders viel, es herrscht aber eine generelle Stimmung von Dominanz und Gewalttätigkeit und eben eine gewisse Ohnmacht auf der Seite der Frauen. Jedes Kapitel in diesem Buch ist einer ganz bestimmten Frau gewidmet, bzw. handelt von ihr. Das Verschwinden der beiden Mädchen zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, wobei im ersten Kapitel die Entführung geschildert wird und im dreizehnten Kapitel das Schicksal der beiden Mädchen enthüllt wird.


Bild von Vijay Dhankhar auf Pixabay

„Das Verschwinden der Erde“ von Julia Philipps fühlt sich an wie eine spannende Sammlung von Kurzgeschichten, die lose miteinander verbunden sind. Das ist für die LeserInnen spannend und interessant, wobei eher die Schicksale der verschiedenen Frauen im Fokus des Interesses steht und nicht so sehr das Verschwinden der beiden Mädchen. Das Buch weckt beim lesen eine bunte Mischung aus vielfältigen Interessen und Reaktionen. Es ist interessant, vielschichtig, spannend und auch voyeuristisch. Es ist eine packende Beschreibung von sozialer Interaktion verschiedener Menschen in einer unbarmherzigen Gesellschaft. Es beschreibt, wie Menschen sich gegenseitig beeinflussen und externe Einflüsse auf sie wirken. Dabei werden die Personen, Männer wie Frauen, zu keinem Zeitpunkt eindimensional dargestellt. So sind Frauen in diesem Roman eben nicht nur die Unterdrückten, sondern auch aktive Komplizinnen der Männer, wenn es darum geht deren Herrschaft über die Frauen aufrecht zu erhalten.

Neben den komplexen und facettenreichen Geschichten in diesem Roman lernt man außerdem eine Menge über Land und Leute in dieser verlassenen und weit entfernten Region. Man lernt etwas über die indigene Bevölkerung, wie die Ewenen, die nach jahrhunderterlanger Kolonisation und Russifizierung nur noch 2,5 Prozent der Bevölkerung Kamtschatkas ausmachen. Dabei werden die Ewenen nicht romantisch verklärt dargestellt. Sie sind Teil dieser Menschen, die ein hartes Leben führen und in ihren archaischen Traditionen und Riten gefangen sind, dass keinen Platz für Veränderung oder Geschlechtergleichheit bietet. Und doch gibt es auch in dieser verhärteten Gesellschaft Platz für glückliche Momente.

Das Buch ist in sich schlüssig verfasst und weiß zu gefallen. Die Auflösung und das Schicksal der beiden verschwundenen Mädchen ist am Ende gar nicht mehr so wichtig. Inhaltlich braucht man am Anfang ein wenig Zeit und Einfühlungsvermögen, um sich in dem komplexen Geflecht der Figuren adäquat zurechtzufinden. Ein wenig Geduld lohnt sich jedoch und wird mit einem gelungenen Roman belohnt.


Julia Phillips – DAS VERSCHWINDEN DER ERDE

dtv Verlagsgesellschaft | Gebundene Ausgabe: 376 Seiten | 22. Januar 2021


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