SACHBUCH | 02.03.2022
Tod
in Hamburg
In
seinem neuen Buch „Tod in Hamburg“ beschäftigt sich
der renommierte britische Historiker Richard J. Evans mit den verheerenden
Cholera-Jahren in Hamburg von 1830 bis 1910. Das brillante Buch ist
ein flammendes Plädoyer, um aus den Fehlern der Geschichte zu lernen.
von
Franziska Keil
Sie
überfiel ihre Opfer jäh und ohne Vorwarnung, die Symptome
erregten allgemeines Entsetzen, das Ende kam schnell und unter Qualen:
1892 wütete eine Cholera-Epidemie in Hamburg, 10.000 Menschen starben
binnen 6 Wochen. In seinem scharfsinnigen Werk zeichnet Richard J. Evans
ein lebendiges Bild der Stadt und ihrer Menschen im Griff der Seuche
und untersucht die Gründe, warum Hamburg als einzige große
europäische Stadt Schauplatz dieser Tragödie wurde. Er zeigt,
dass es eine Verknüpfung politischer, ökonomischer, sozialer
und medizinischer Bedingungen war, die einer eigentlich schon ausgerotteten
Krankheit noch einmal Tür und Tor öffneten. Mit einem aktuellen
Vorwort des Autors, das den Vergleich zwischen der damaligen Epidemie
und der heutigen Situation mit SARS-CoV-2 zieht…
Wir leben in bewegten Zeiten.
Eine tödliche Pandemie hält die Welt seit zwei Jahren in Atem.
Fast 450 Millionen Menschen haben sich weltweit mit COVID-19 infiziert.
Mehr als 6 Millionen Menschen sind weltweit während der Pandemie
bislang gestorben und ein Ende ist nicht abzusehen. Grund genug, sich
mit der Geschichte der Seuchen und Pandemien eingehender zu beschäftigen.
Dieses Thema ist bei weitem nicht nur von medizinhistorischem Interesse.
Nur wenn aus Fehlern, die in der Vergangenheit gemacht wurden, gelernt
wird, kann die Zukunft positiv gestaltet werden. Dazu gehört eine
umfassende Analyse von Seuchen und Pandemien, die in der Vergangenheit
unsere Erde heimgesucht haben. Richard J. Evans hat sich in seinem neuen
Buch „Tod in Hamburg“ dieser wichtigen Aufgabe verschrieben.
Dabei beleuchtet er detailliert und wissenschaftlich brillant die Zeit
der Cholera-Jahre in Hamburg von 1830 bis 1910. Eine Kernthese von Richard
J. Evans ist, dass es sich bei der Beschäftigung mit Seuchen und
Pandemien in der Vergangenheit nicht nur um ein medizinhistorisches
Thema, sondern auch um ein sozialhistorisches Thema handelt, das von
den Lebendbedingungen und vom vorherrschenden politischen System nicht
zu trennen ist. Der Autor macht in diesem Buch deutlich, dass die Cholera-Ausbrüche
in Hamburg kein Zufall waren, sondern ein Produkt u.a. "menschlichen
Handelns, gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer Unruhe, …“.
Viele Faktoren sind damals zusammengekommen, die zu einem katastrophalen
Ergebnis führten.
Die
damalige Stadtregierung in Hamburg war ignorant und wollte einen rigorosen
Sparkurs durchsetzen, Einzelakteure waren überfordert und hatten
große charakterliche Schwächen und die Wohnbedingungen von
vielen Menschen in der Hansestadt boten dem Cholera-Erreger eine ideale
Brutstätte. So mussten sich Menschen, die am Fluss lebten und arbeiteten,
zwangsläufig infizieren, weil die Toilettenabflüsse direkt
in den Fluss führten. Jener Fluss, aus dem Trinkwasser entnommen
wurde. Neun Menschen, die in zwei Räumen lebten, waren damals alltäglich.
Ideale Bedingungen für eine verheerende Infektionskette. Die damaligen
Zustände machen betroffen und wütend. Etwa, wenn die damals
herrschende Klasse den Bau einer Kanalisation und einer funktionierenden
städtischen Wasserversorgung ablehnen und zugleich genügend
Dienstpersonal haben, um Trinkwasser vom Wasserwagen zu holen oder Leitungswasser
abzukochen. Der Autor beschreibt diese damaligen sozialen Zustände
sehr plastisch. Bei der Lektüre von „Tod in Hamburg“
ist man schnell in die dort beschriebene Welt versunken. Ein Sachbuch,
dass sich so spannend liest wie ein Kriminalroman. Für den Leser
werden schon in der Einleitung Parallelen zur derzeitigen Pandemie erkennbar.
Es sind die gleichen Fehler, die sich bis zum heutigen Tag immer und
immer wieder wiederholen.
Das Buch verfügt überzahlreiche informative Quellen und Statistiken,
mit deren Hilfe verdeutlicht wird, wieso Hamburg als einzige Stadt 1892
noch einen Cholera-Ausbruch erlebte. Warum die Stadt diesbezüglich
weder mit Berlin als Großstadt noch mit Bremen als Hafenstadt
vergleichbar ist, arbeitet der Autor sehr schön heraus. Finanziert
wurde damals in Hamburg nur, was dem Handel und den Häfen nutzte.
Eine Universität, Krankenhäuser, Pflegepersonal, Fuhrwerke
zum Krankentransport, Wasserwerke oder ein Schlachthof hatten vor 1892
nicht dazu gehört. Ein funktionierendes staatliches Gesundheitswesen
samt Berufsbeamtentum wurde in Hamburg erst nach langem Zögern
möglich durch die Einstellung von auswärtigen Ärzten,
die an preußischen oder bayerischen Universitäten studiert
hatten. Hinzu kommt ein gehöriges Maß an krimineller Energie,
etwas wenn bereits infizierte Menschen auf Auswandererschiffe in die
USA gebracht werden, um für sie nicht aufkommen zu müssen.
Richard J. Evans versteht es in „Tod in Hamburg“ meisterhaft,
den erzählerischen Spagat zwischen Zahlen und Diagrammen und Persönlichkeiten
und Einzelschicksalen zu finden. Er macht dabei keinen Hehl aus seiner
Sympathie für die kleinen Leute. Dieses Buch ist ein brillantes
Sachbuch und eine packende Studie zu einem interessanten Thema. Die
schiere Menge an Statistiken, Zeitungsartikeln, persönlichen Aufzeichnungen
und Fotos, die er für dieses Buch ausgewertet hat, beeindruckt
und weckt Interesse an einem historischen Thema, das viele Hinweise
und Hilfestellungen für die aktuelle Pandemie bietet.
TOD
IN HAMBURG: Stadt, Gesellschaft
und Politik in den Cholera-Jahren 1830 - 1910
RICHARD
J. EVANS | Pantheon Verlag | Broschiert: 928 Seiten
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