BELLETRISTIK
| 01.07.2020
Unter
den Linden 6
Berlin,
1907: Die junge Wissenschaftlerin Lise kommt nach ihrer Promotion an
die Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, um bei Max
Planck zu forschen. Dass Frauen in Preußen offiziell noch nicht
an Universitäten zugelassen sind, kann sie nicht aufhalten. Schon
bald arbeitet sie neben Otto Hahn. Das Schicksal führt sie mit
zwei Frauen zusammen: Hedwig musste die Unterschrift ihres Mannes fälschen,
um die Uni besuchen zu können – denn ohne die Zustimmung
des Ehemannes geht nichts. Anni arbeitet als Dienstmädchen beim
berühmten Friedrich Althoff und liest sich heimlich durch dessen
Bücherregal. Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen
Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück, die Liebe und das
Recht auf Wissen und Bildung kämpfen. Denn die Widerstände
in der männlichen dominierten Universitätswelt sind hoch.
von
Eve Pohl
Wenn
man sich vor Augen führt, dass Frauen in Deutschland erst seit
1958 einen Führerschein machen konnten, seit 1962 ein Konto eröffnen
durften oder seit 1977 erst arbeiten durften – alles ohne die
Erlaubnis des Ehemannes, zeigt es sich, dass die Arbeit der ersten Frauen
in Schulen und Universitäten besonders wichtig war. Bildung ist
immer der erste Schritt zur Selbstbestimmung, kommt damit doch auch
finanzielle und intellektuelle Freiheit. Aber auch Fragen nach der Anerkennung,
die Frauen wie Lise Meitner, erst viel später erfahren haben, sollten
nicht außen vor gelassen werden.
Der
Roman folgt drei sehr unterschiedlichen Frauen, die doch eine Sache
verbindet: Sie alle sind neugierig, wissensdurstig und auf der Suche
nach Bildung. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass sie Archetypen
verschiedener gesellschaftlicher Schichten repräsentieren sollen.
Lise ist Wissenschaftlerin durch und durch. Nachdem sie in Wien bereits
Physik studiert hat, versucht sie nun in Berlin einen Neuanfang. Doch
die konservative Hochschulpolitik macht ihr zunächst einen Strich
durch die Rechnung. Denn an der Friedrich-Wilhelms-Universität
kann sie sich lediglich als Gasthörerin einschreiben und nicht
wie zuvor regulär weiterstudieren. Sie entstammt dem Bildungsbürgertum
und hat kein großes Interesse daran, sich politisch zu engagieren.
Hedwig hingegen kommt aus der bürgerlichen Oberschicht. Ihr Vater
besitzt eine Fabrik und es war ihm wichtig, dass sie ihrem Stand entsprechend
heiratet. Als sie jedoch von ihrer Freundin zu einem Salon eingeladen
wird, entdeckt sie eine neue Welt und würde auch gerne studieren.
Dazu muss sie allerdings die Unterschrift ihres Ehemannes fälschen
und hoffen, dass sie nicht auffliegt. In der Universität schließlich
hat sie andere Schlachten zu schlagen, denn viele der Professoren und
Kommilitonen sind Frauen im Bildungsbetrieb nicht geheuer. Und auch
in Puncto politischer Mitbestimmung ist es problematisch.
Sie
ist aber eine beherzte und tatkräftige Frau, die sich nicht so
leicht unterkriegen lässt. Auch als sie bereits längst an
der Hochschule studieren kann und sogar promoviert, setzt sie sich immer
wieder für andere Frauen und deren Rechte ein. Die dritte im Bunde
ist Annie, die aus der Arbeiterklasse entstammt und als Dienstmädchen
in einem wohlhabenden Hause in Berlin arbeitet. Aber auch sie ist nicht
zufrieden mit dem, was sie erreichen konnte und liest heimlich die Bücher
aus der Bibliothek. Anfangs traut sie sich nicht unbedingt und hat unter
dem strengen Blick der Hausherrin zu leiden. Doch nach und nach bekommt
sie doch mehr Freiheiten und kann sogar ihr Abitur an der Volksschule
machen. Obwohl alle drei Frauen in so unterschiedlichen Verhältnissen
leben, kreuzen sich ihre Wege doch immer wieder und es entwickelt sich
zwischen ihnen eine tiefe Freundschaft. Die Lise Meitner des Romans
ist zumindest grob auf der real existierenden Wissenschaftlerin aufgebaut,
die beiden Freundinnen hingegen sind eine Erfindung der Autorin. Dadurch
wird die Geschichte um einiges lebendiger.
Lise
Meitner war eine der wichtigsten Wissenschaftlerinnen des zwanzigsten
Jahrhunderts und zugleich eine tragische Figur. Sie forschte mit Otto
Hahn zusammen und arbeitete als inoffizielle Assistentin von Max Planck.
Als sie schließlich im Jahr 1922 habilitierte und 1926 als erste
Professorin für Physik an die Universität in Berlin berufen
wurde, konnte sie ihren Beruf dort nicht lange ausüben. Denn bereits
im Jahr 1933 wurde ihr die Lehrbefugnis aufgrund ihrer jüdischen
Abstammung wieder entzogen. Später emigrierte sie nach Schweden,
wo sie am Nobel-Institut weiterforschte. Der Roman endet allerdings
im Jahr 1914, als sie sich entschied, als Krankenpflegerin und Röntgenschwester
ausbilden zu lassen, um im ersten Weltkrieg an der Front zu helfen.
Im Gegensatz zur realen Lise Meitner, beschreibt die Autorin im Roman,
dass sie ein deutliches Unbehagen bezüglich des Krieges verspürt
und ihn nicht gutheißt. Dabei geht es ihr in erster Linie um das
Wohlbefinden ihrer Kollegen und die Sorge um ihre Forschung geht und
weniger um den Krieg an und für sich.
Bei
„Unter den Linden 6“ handelt es sich um einen Roman, der
so viele einzelne Elemente enthält, dass er sich schwerlich in
eine Kategorie einordnen lässt. Über allem schweben aber zwei
Dinge: Der Kampf darum, etwas lernen zu dürfen und die Freundschaft,
die alles überdauert. „Unter den Linden 6“ ist ein
lesenswerter und auch kurzweiliger Roman, auch wenn es einige Stellen
gibt, in denen es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht, die teilweise
kompliziert und schwierig zu verstehen sind.