Maryam
Zaree wurde im Evin-Gefängnis in der iranischen Hauptstadt Teheran
geboren. 1985 flüchtete ihre Mutter, die Frankfurter Lokalpolitikerin
Nargess Eskandari-Grünberg, mit ihr wegen politischer Verfolgung
nach Deutschland. Ab ihrem zweiten Lebensjahr wuchs sie in Frankfurt
am Main auf. Ihr Schauspielstudium absolvierte sie von 2004 bis 2008
in der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam an der staatlichen
Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in
der Medienstadt Babelsberg. Bekannt wurde sie durch die Hauptrolle
Maryam in dem Kinofilm „Shahada“ von Burhan Qurbani. Der
Film lief im offiziellen Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele
Berlin 2010 und wurde in Deutschland sowie auf verschiedenen internationalen
Festivals prämiert. Maryam Zaree wurde für schauspielerische
Leistung in „Shahada“ mehrfach ausgezeichnet. In der Folgezeit
spielt sie zahlreiche Hauptrollen in erfolgreichen Kinofilmen.
Im
deutschen Fernsehen ist sie von 2015 bis 2019 in der durchgehenden
Rolle der Gerichtsmedizinerin Nasrin Reza im Berliner Tatort um das
Ermittlerteam Rubin und Karow zu sehen gewesen. In der Serie „4
Blocks“ spielt sie Khalila, eine der weiblichen Hauptrollen.
Maryam Zaree ist Gastschauspielerin an verschiedenen deutschen Theatern,
u. a. am Schauspielhaus Hannover und in Berlin am Maxim-Gorki-Theater,
an der Schaubühne am Lehniner Platz und am Ballhaus Naunynstraße.
Sie arbeitet außerdem als Autorin und Regisseurin. Mit ihrem
ersten Theaterstück „Kluge Gefühle“ gewann sie
den AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2017. Mit „Born
in Evin“, ihrem eindrucksvollen Debüt als Filmregisseurin
2019, kehrte sie zu ihrem Lebensanfang im Evin-Gefängnis zurück.
Der Film wurde 2020 mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet.
Warum
haben Sie sich entschieden „Born in Evin“ zu drehen? Gab
es einen Initialmoment?
Maryam
Zaree: Es lässt sich nicht so ganz auf einen einzelnen
Moment zurückführen, es sind verschiedene unterschiedliche
Momente gewesen. Aber ein wichtiger Aspekt ist, dass ich bereits seit
zehn Jahren mit Yael Ronen, einer israelischen Theaterregisseurin,
als Dramaturgin und Co-Autorin arbeite. Yael Ronen macht sehr politisches
Theater, geht aber auch von den biografischen Geschichten der Künstler
und der Schauspieler aus und erarbeitet so in einem gemeinsamen Prozess
die Theaterstücke. Da habe ich mitgearbeitet, sowohl als Schauspielerin,
als auch als Dramaturgin. Das heißt, diese Fragestellung, wann
hat es autobiografische Anteile, wann hat es einen universellen Wert,
wann deutet es über sich hinaus, wann ist es politisch, wann
ist es nur privat. Diese Auseinandersetzung war schon lange Teil meiner
Arbeit. Spezifisch auf „Born in Evin“ bezogen, gab es
schon ganz früh dieses Gefühl in Bezug auf meinen Vater.
Ich wollte gar keinen Film machen dazu, dachte aber immer: Okay, hier
im privaten Kontext, oder in unserem Familienkontext tragen wir so
eine Zeugenschaft mit uns und mein Vater weiß um bestimmte Dinge
und es gibt keine juristische Aufarbeitung bis zum heutigen Tag.
Wenn
mein Vater verschwinden wird, wird auch diese Zeugenschaft verschwinden
und das hat mir immer Sorge bereitet. Ganz früh habe ich schon
immer mal mein Handy mitlaufen lassen, wenn er erzählt hat, um
es aufzunehmen, weil ich das Gefühl hatte, das muss bewahrt werden.
Aber das war alles viel mehr aus einem archivierenden Gedanken heraus,
als aus dem Gedanken heraus, wie man eine künstlerische, filmische
Übersetzung daraus machen könnte. Und dann gab es den Moment,
als ich erfahren habe, dass ein anderes Kind, genau wie ich, im Gefängnis
geboren wurde und daraus ergaben sich verschiedene Forschungsarbeiten.
Kurt Grünberg, mein Stiefvater, war sehr hilfreich, mir die Tradierung
von Traumata zu erklären. Dann gab es eines Tages den Moment
wo ich dachte: Was ist mit diesen anderen Kindern? Was ist aus denen
geworden? Wo wohnen die? Wie hat sich die Weitergabe dieser Traumata
gestaltet? Wie kann ich diese Menschen finden? Ich musste daraus einen
Dokumentarfilm machen! Das war vielleicht ein Initialmoment. Das ist
über viereinhalb Jahre her und dann ging der Weg los.
Das
ist eine ganz schön lange Zeit...
Maryam
Zaree: Ja, aber ich denke für einen Dokumentarfilm ist
das gar nicht so lange. Joshua Oppenheimer war ein großes Vorbild,
als er über 10 Jahre an „The Look of Silence“ und
„The Act of Killing“ gearbeitet hat. Also ging es bei
uns dann doch schnell.
Gab
es schon von Anfang an ein fertiges Konzept oder gab es viel Improvisation
und Veränderung während des kreativen Prozesses?
Maryam
Zaree: Es war sehr früh klar, dass ich eine Idee davon
haben muss, was das dramaturgische Gerüst ist, worum es im Film
geht und wie ich ihn erzählen will. Dann war da dieser ganz frühe
Zeitpunkt, der Moment, wo ich mich von der Idee verabschieden musste,
dass ich in diesem Film nicht vorkomme. Ich wollte eigentlich einfach
nur Regie machen. Ich wollte das von mir noch weiter fernhalten und
dann war bereits klar, dass das nicht funktionieren wird. Denn ich
kann mich da nicht aussparen, ich muss vorkommen, wenn ich etwas erzählen
möchte über den Schritt aus der Verdrängung ins Licht
hinaus. Das war relativ am Anfang. Auch ebenfalls war ganz früh
klar, dass wir verschiedene Aspekte haben werden, beispielsweise die
Metaebene. Diese verschiedenen metaphorischen Assoziationsebenen waren
relativ früh beschrieben.
Und
damit diese Ebenen Platz filmisch Platz finden können, brauchten
wir ein gutes dramaturgisches Gerüst. Weil ich schon als Dramaturgin
gearbeitet hatte, war es mir sehr wichtig, dass ich wusste was der
Bogen ist. Wie baut sich das auf? Wo sind die Akte? Wo ist die Heldenreise?
Wen treffe ich da? Auch damit ich mich auf die einzelnen Protagonisten
einlassen konnte. Und klar war, dass wir dann sehr spontan reagieren
mussten, wenn zum Beispiel plötzlich eine neue Konferenz da war,
von der wir vorher noch nie gehört hatten. Dann mussten wir unser
Pläne spontan ändern. So waren wir schon in Paris und plötzlich
mussten wir wieder zurück nach Paris, obwohl wir schon längst
in London waren. Es hat sich also immer wieder viel geändert.
Ich muss sagen, der Drehablauf findet sich relativ chronologisch wieder
im Film.
Man
hat gemerkt, dass während der Dreharbeiten viele Menschen den
Tränen nahe waren und dass es sehr emotional war. Wie war das
für Sie? Gab es auch Momente, wo man nicht mehr konnte und einfach
gesagt hat: Ich muss jetzt mal einen Cut machen?
Maryam
Zaree: Man sieht es ja im Film. Es gibt diesen langen Widerstand,
der ja ein scheinbarer Widerstand von außen
ist, aber eigentlich ein innerer Widerstand ist. Kann ich mich dahin
überhaupt vordrängen und was blickt mir dann so entgegen?
Deshalb war es mir sehr wichtig, dass man dieses Zögern im Film
sieht, genau wie die Sorge um das aufgeben. Ob im Gespräch mit
einer Soziologin oder bei der eigenen Aufstellungsarbeit mit Puppen.
Die eigenen Zweifel, ob man die Wahrheit eigentlich will. Was bringt
es überhaupt? Das ist so im Film eingetreten. Deshalb geht es
im fertigen Film auch über diese spezifische Geschichte die ich
erzähle. Es sind Widerstandsmechanismen im Angesicht von extremen
Gewalterfahrungen. Man möchte da nicht hingucken. Wie kann man
diese Dinge filmisch vermitteln?
Wie
war es für Sie aus der Rolle der Schauspielerin in die Rolle
der Regisseurin zu wechseln? Wie war es gleichzeitig in dem Film vorzukommen
und gleichzeitig Regie zu führen?
Maryam
Zaree: Diese Frage wurde mir schon ein paarmal gestellt.
Es waren Bedenken ganz am Anfang. Was bedeutet es? Wird man wahrhaftig
in dem Moment sein und man selber sein, wenn man um Schauspieltechnik
weiß? Aber dadurch, dass dieses Thema so extrem ist und es so
viel mit uns zu tun hat, passiert es nicht. Die Distanzierung über
ein Schauspielhandwerk ist völlig absurd. Das wäre mir nie
in den Kopf gekommen, mir Gedanken über die gewaltvollen Umstände
meiner Geburt machen. Da ist wie zwei unterschiedliche Planeten. Das
Einzige, was etwas gebracht hat, ist der Umstand, dass ich 15 Jahre
Schauspielerin war, hunderte Drehbücher gelesen habe, mich mit
dem Handwerk des Geschichtenerzählens auskenne. Der große
Vorteil war, dass ich in Drehblöcken gedreht habe und in diesen
Blöcken zusammen mit dem Editor geschnitten habe und Pausen zwischen
den Drehblöcken hatte.
Die
waren keine nicht gefüllten Pause, sondern ich konnte da Rollen
spielen und das hat meine Aufmerksamkeit so weggenommen und mir eine
Distanzierung gelang. Ich konnte auf diesen Stoff schauen ohne in
eine Überidentifikation mit der eigenen Geschichte zu kommen.
Ich habe mich dann irgendwann sehr distanziert von der eigenen Geschichte
und von mir als Protagonistin. Auch weil ein langer Zeitraum zwischen
den Drehblöcken lag. Dann sitzt man so da und denkt: „Man,
was blinzelt die die ganze Zeit. Der Satz ist viel zu lang.“
So sprach ich dann über mich selbst, weil es irgendwann so weit
weg war. Und das war ein guter und auch notwendiger Prozess.
Gab
es sehr viel Material, dass nicht im fertigen Film verwendet wurde?
Maryam
Zaree: Ja, es gab 120 Stunden Filmmaterial. Mein Vater hat
das mal ausgerechnet. Es sind ca. 7.000-8.000 Minuten. Der Film hat
90 Minuten, also hätte man auch sicher sechs Filme daraus machen
können.
Was
ist das, was man aus dem Film mitnehmen soll? Was ist die Kernbotschaft?
Maryam
Zaree: Der Film ist ein Plädoyer gegen Menschenverachtung!
Wie kann man aufrecht mit Integrität das gemeinsame Menschsein
hochhalten? Wie kann man Nein sagen zu eben diesen Prozessen, wenn
sich plötzlich etwas radikalisiert, idiologisch gefärbt
wird und sich faschistische Strukturen breit machen? Was ist die Bedeutung
von so einem Film in dem Kontext der Anschläge der letzten Zeit?
Die Szene am Anfang der Kostümprob – darum geht es. Wie
wird über Flucht gesprochen? Wer erzählt davon? Wer erzählt
von Gewalterfahrung, Vertreibung, Verfolgungserfahrungen, Foltererfahrungen?
Wie wird darüber gesprochen und wie eben nicht? Der Film versucht
sich eben dem anzunähern: Was bedeutet es für eine folgende
Generation, wenn sie sich den Geschichten annähern, seien es
die der Großeltern- oder die der Elterngeneration. Wie kann
man aus diesen Geschichten lernen, damit die Behauptung von Menschenrechten
eben keine leere Behauptung ist, sondern aktive Auseinandersetzung.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und wie wollen wir unsere
Zukunft gestalten?
Inwieweit
ist man als Medienmensch, als prominenter Mensch, in der Verantwortung
sich zu gesellschaftspolitischen Fragen zu äußern?
Maryam
Zaree: Als Prominenter hat man natürlich ein anderes
Publikum, das man erreichen kann. Umso mehr sehe ich darin eine Verantwortung,
genau das auch zu tun. Aber ich denke, im Moment müssen wir uns
viel breiter gesellschaftlich die Frage stellen, was wir als Bürgerinnen
und Bürger tun. Wie ist es mit einer gemeinsamen Verantwortung
antifaschistisch, antirassistisch gegen den Antisemitismus, gegen
diesen Hass auf sogenannten Anderen einzusetzen? Prominenten haben
da durch ihre Reichweite eine besondere Verantwortung, aber der Bürger
hat sie eben auch.
Was
ist ihr Lieblingsgeräusch?
Maryam
Zaree: Oh, das ist schwer! Aber das was mir einfällt
ist komisch, weil sich da das Geräusch mit dem Geruch verbindet.
Ich laufe wahnsinnig gerne auf Kiefernadeln und die Art wie das riecht
und wie es anhört, wenn man darüber läuft und der Boden
zu weich ist, dieser Geruch und dieses knistern, das liebe ich und
entspannt mich so wahnsinnig.
Welches
Geräusch mögen Sie gar nicht?
Maryam
Zaree: Ich glaube das Geräusch, das ich am meisten hasse,
ist das gurren von Tauben.
Was
ist Ihr Lieblingswort?
Maryam
Zaree: Ich denke jetzt gerade, weil das ein Wort ist, das
ich viel benutze, auch in Gesprächen, das ist „das Versehrtsein“
und das Anerkennen des Versehrtseins. Das ist ein schöner Begriff
über das, was Menschen angetan worden ist und wo der Akt der
Gewalt nicht mit der Tat aufhört, sondern Menschen etwas mit
sich tragen.
Welches
Wort mögen Sie nicht?
Maryam
Zaree: Ein Wort, das ich gar nicht mag und hasse, ist „Hass“.
Ich finde, Wut ist legitim. Hass aber, gerade als antreibende Kraft,
finde ich schrecklich.
Was
ist Ihr Lieblingsschimpfwort?
Maryam
Zaree: Mein Lieblingsschimpfwort ist: „Es war würdelos!“.
Es ist kein Schimpfwort, aber einer meiner besten Freunde sagt es
immer in einem lustigen Kontext. Ich sage es sehr gerne.