Startseite > Kultur > Literatur | 10.10.2018

LITERATUR
Ein einfaches Leben

Min Jin Lee ist mit „Ein einfaches Leben“ ein faszinierender Generationenroman von geradezu epischen Ausmaßen gelungen, der die wechselhafte japanisch-koreanische Geschichte thematisiert. Das Buch wurde 2017 für den “National Book Award” nominiert.

von Richard-Heinrich Tarenz


© dtv Verlagsgesellschaft

Zum ersten Mal wurde dieses schwierige Thema für eine englischsprachige Leserschaft aufgegriffen. Nun ist das Buch in deutscher Sprache in einer meisterhaften Übersetzung von Susanne Höbel erschienen. Die ersten Worte, die einem nach dem Konsum der mehr als 550 Seiten einfallen, sind „vielschichtig“ und „komplex“. Dieses Buch kann man nicht mehr so einfach aus der Hand legen, wenn man einmal darin versunken ist. Die Ereignisse und die darin agierenden Personen ziehen den Leser unweigerlich in einen Sog der Faszination, dem man sich nur schwer entziehen kann. Hinzu kommt, dass das Buch sich sprachlich auf einem sehr hohen Niveau bewegt. Sprache dient nicht nur der Beschreibung, sondern ist zugleich Kunstobjekt. Für den mit der Thematik nicht vertrauten Leser eröffnet sich eine völlig neue Welt, voller kultureller Eigenheiten, Vorstellungen und Wertesystemen, die zu Beginn sehr exotisch und fremd erscheinen müssen.

Ein gutes Beispiel dafür ist das Thema „Selbstmord“, das im Roman an verschiedenen Stellen eine wichtige Rolle spielt. Aus Sicht der Protagonisten erscheint es zwingend erforderlich und richtig, dass aufgrund eines als untragbar empfundenen Ehrverlustes der Freitod die einzige mögliche Option ist und dementsprechend gewählt wird. Dieses Verhalten erscheint für einen Leser der westlichen Welt schwer verständlich, doch müssen wir uns lösen von einem kulturellen und gesellschaftlichen Weltbild, dass „westliche“ Verhaltensnormen als universell gültig propagiert. In dieser Hinsicht ist „Ein einfaches Leben“ ein wichtiger Beitrag zur Völkerverständigung und einem besseren Verständnis von fremden Kulturen.

Es ist die Stärke von Min Jin Lee diese Sichtweisen und unterschiedlichen kulturellen Wertemodelle verständlich zu machen. Sie zeigt die enorme Kraft von Traditionen auf Menschen in einer für sie fremden Umgebung. Es geht dabei auch und gerade um Vorurteile und Diskriminierung und deren Auswirkungen auf Menschen auf beiden Seiten. Die Haupt- wie auch die Nebenfiguren sind exzellent gezeichnet und sehr vielschichtig. Sehr schnell fiebert man mit den Schicksalen der Personen mit. Ihr Schreibstil ist fern von Pathos und sehr ruhig und bestimmt. Mit einfachen Worten erweckt die Autorin große Emotionen beim Leser. Dieses Buch ist unterhaltsam wie auch lehrreich. Es gehört zu den bisherigen Höhepunkten des literarischen Jahres 2018.


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